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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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einmal schlecht gelaunt im Proberaum auf und erzählte,
     dass seine Freundin jetzt immer öfter anfange, ihm seinen Kleidungsstil vorzuwerfen; er könne doch nicht ewig in seinen Wollpullis
     und Springerstiefeln herumlaufen. Tobias wusste genau, wie die Geschichte |198| weitergehen würde, und so kam es dann auch: Das Mädchen wurde von Alexis gefragt, ob es fest in der Agentur einsteigen wolle,
     verbrachte noch mehr Zeit im Büro. Und ein paar Wochen später – der Schlagzeuger sagte die Probetermine nun immer häufiger
     ab – erfuhr Tobias von einem
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- Mitarbeiter, dass Alexis eine neue Freundin habe, ziemlich süß, anscheinend eine Kollegin aus seiner neuen Agentur. Er nahm
     die Nachricht teilnahmslos auf, wie etwas längst Erwartetes. Tobias war jetzt Spezialist auf diesem Gebiet, und so wie ehemalige
     Junkies gerne als Referenten über Drogensucht engagiert werden, fühlte er sich wie ein Trennungsbeauftragter, hätte ganze
     Seminare über die Signale und Vorstufen zerbrechender Liebesbeziehungen geben können.
     
    Was Tobias selbst immer wieder in den Monaten darauf einholte, war vor allem die jähe Erkenntnis, dass er in der ganzen
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- , Schumann’s- und Helmut-Lang-Welt nur deshalb aufgehen konnte, weil es die Stunden mit Emily als Gegengewicht gegeben hatte.
     Wenn er an das letzte Jahr mit ihr dachte, die Zeit seit der Affäre mit Lars, dann war ihr Zusammensein für ihn in erster
     Linie wie eine Erholungsmaßnahme gewesen. Sie hatten sich ohnehin fast nur noch sonntags getroffen. Und wenn sie sich sahen,
     dann immer zu zweit, da Emily ja nichts mit den
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- Leuten anfangen konnte und ihr gemeinsamer Freundeskreis über Undone seit der Affäre weggebrochen war. Tobias kam Samstagnacht
     oder Sonntagvormittag zu Emily; sie frühstückten lange, und dann gingen sie an der Isar spazieren oder fuhren mit Emilys altem
     gelbem Audi, den sie sich |199| nach der Ente gekauft hatte, aufs Land. Abends sahen sie sich einen Film im Kino an. Die Stunden mit Emily waren Tobias’ notwendiger
     Ausgleich zur restlichen Zeit; er hätte das damals nicht sagen können, aber an den Sonntagen (und dem Frühstück am Montagmorgen
     in ihrer Küche) schöpfte er Kraft für die Performance der Woche. Die Ruhe dieses Tages gab ihm die notwendigen Reserven für
     das, was ein Freund von ihm immer den »Speedtalk« unter den Journalisten nannte, den Eloquenz-Wettstreit an den Tischrunden,
     das aufgeheizte Assoziieren, das Entwickeln neuer Themen, bis einer von ihnen, meistens Johannes Veith, sagte: »Jetzt komm,
     schreib das doch morgen in die Zeitung rein!« Tobias hatte keine Ahnung, wie er sein Leben ohne diesen Gegenpol würde bewältigen
     können; ihm blieb ganz buchstäblich die Luft weg bei dem Gedanken, an diesen Tischrunden ohne Aussicht auf die Sonntage mit
     Emily teilzunehmen. Er konnte die Art von Konversation, die er in seiner Anfangszeit beim
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so geliebt hatte, jetzt kaum noch ertragen: die Gespräche, die mittags in der Zeitungskantine oder auf der Hinterhof-Terrasse
     des Plitvice und abends im Schumann’s stattfanden und für alle Nicht-Journalisten vollkommen unzugänglich waren. Er selbst,
     so fiel ihm nun auf, war auch kein Sonderfall darin, seine Freundin von dieser Sphäre ausgeschlossen zu haben; die Ehefrauen
     und Freundinnen der Redakteure waren – sofern sie nicht selbst Journalistinnen waren – so gut wie nie dabei im Schumann’s,
     und wenn doch, wie etwa bei Johannes’ Frau, sah Tobias ihr die Schwierigkeiten deutlich an, sich am Gespräch zu beteiligen.
     Johannes musste sie immer ganz ausdrücklich einbeziehen, und |200| man konnte sich jedes Mal ausmalen, dass es auf dem Nachhauseweg zu einem Streit zwischen ihnen über den Verlauf des Abends
     kommen würde. Tobias fragte sich nun auch, ob manche seiner Arbeitskollegen um diese Gefahr wussten, ob sie ahnten, dass ihr
     Leben nur im Ausbalancieren zweier komplett verschiedener Welten möglich war und völlig einzubrechen drohte, wenn der eine
     stabilisierende Faktor wegfiel. Denn die Art des Miteinanderumgehens im Journalismus konnte man – wenn man nicht so unerschütterlich
     wie Dennis Hagen war – kaum als einzigen Bestandteil des eigenen Lebens aushalten.
     
    Im Kulturressort der Zeitung hatte zu dieser Zeit ein hochgelobter neuer Volontär angefangen, Konstantin Dehmel. Er war trotz
     seiner zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre bereits ein brillanter Schreiber und ging in dem Speedtalk auf wie kein

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