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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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niemals angerufen, um sich allein mit ihm auf ein Bier zu verabreden. Die Leute gab es
     für ihn nur |206| als Elemente eines Ganzen, und jedes Mal, wenn er ins Substanz fuhr, hoffte er, dass genügend von ihnen dort sein würden.
     
    Grundsätzlich hatte Tobias immer eine bestimmte Art von Zweier-Verabredung gemieden, bei der man sich alle paar Wochen trifft
     und sich die jüngsten Neuigkeiten aus dem eigenen Leben erzählt. Im Zentrum seiner Bekanntschaften standen vielmehr Schauplätze,
     früher das Substanz, später das Schumann’s, in die er ohne Verabredung gehen konnte, weil er wusste, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit
     jemanden treffen würde. Tobias liebte diesen Moment, wenn er an einem späten Donnerstag- oder Freitagabend die Tür zu einem
     überfüllten Laden öffnete, den er gut kannte, und noch alle Optionen offenstanden: dass nur ein oder zwei Freunde da waren,
     mit denen man in Ruhe ein Bier im Stehen trank und früh nach Hause ging; dass man plötzlich einen großen Tisch entdeckte,
     an dem eine Runde von Bekannten saß und feierte; oder dass einem plötzlich jemand über den Weg lief, den man seit Jahren aus
     den Augen verloren hatte und mit dem man dann den ganzen Abend verbrachte. Ein Effekt dieser Vorliebe war es aber, dass Tobias,
     wie ihm jetzt bewusst wurde, praktisch nur Rahmenfreundschaften hatte, Kontextfreundschaften. Er wechselte von Milieu zu Milieu
     und duldete keine Überschneidungen der Kreise, weil der schnelle, anspielungsreiche Sound der Unterhaltungen, das ständige
     Verweisen, Assoziieren, »Du weißt schon«-Sagen nur durch das gleichermaßen ausgeprägte Beherrschen des Spezialjargons möglich
     war. Die letzte und vollkommenste Station auf diesem Weg war für Tobias dann das |207|
Vorn
gewesen; die Geschlossenheit dieser Sphäre, so schien es ihm jetzt, war nicht mehr zu überbieten und ließ keinen Außenstehenden
     zu.
     
    Die einzige Person in all den Jahren, zu der Tobias ein anderes Verhältnis hatte, eines, das sich nicht auf einen engen gemeinsamen
     Kontext beschränkte, war Emily. Und diese Basis der Zweisamkeit war auch die Voraussetzung für ihn, mit umso größerer Radikalität
     und Konsequenz in den anderen Milieus aufzugehen. Jetzt war diese Mitte, dieses Fundament weggebrochen, und Tobias fühlte
     sich, als müsse sein Leben ganz von vorn beginnen. Wie oft dachte er an Emily, an die völlig andere Ordnung ihrer Bekanntschaften:
     Das Wichtigste waren bei ihr immer schon sechs oder sieben alte Freundinnen gewesen, einige aus der Studien- oder Schulzeit,
     andere sogar aus frühesten Nachbars- und Sandkastentagen. Manche sah sie ständig, manche traf sie einmal im Monat abends in
     einer Kneipe. Immer war es Tobias klar gewesen, dass in Emilys Freundschaft zu den »Mädels«, wie sie sagte, etwas Konstanteres
     und vielleicht auch Verlässlicheres für sie lag als in der Beziehung zu ihm. Emily hatte das einmal sogar ausgesprochen: dass
     sie nicht genau wisse, wie lange es noch gutgehen werde zwischen ihnen, dass sie aber ganz beruhigt sei, weil Tanja, Caro
     oder Katja sicher immer für sie da wären. (Und genauso war es dann auch eingetreten.) Tobias hatte den Eindruck, dass Frauen
     diese Dinge klüger regelten, dass sie ihrem Freund keine übermäßige Verantwortung für ihr Leben auferlegten. Er selbst hatte
     dagegen alles, was für Beruhigung und Orientierung zuständig war, auf Emily übertragen. |208| Er nahm sich vor, das bei seiner nächsten Freundin anders zu machen.
     
    Mit Emily konnte Tobias nach diesem Einbruch nicht mehr sprechen. Sie wollte das zuerst nicht verstehen, doch nach ein oder
     zwei schlimmen Telefonaten ließ Emily ihn in Ruhe. Sie hörten und erfuhren nun nichts mehr voneinander; nur einmal im Frühling
     sah Tobias sie in der Innenstadt Hand in Hand mit Lars eine Straße entlanggehen. In diesen Monaten begann Tobias mit einer
     langen Mail an Emily. Zu Hause auf seinem Computer schrieb er ihr; an manchen Tagen mehrere Seiten, dann wieder über Wochen
     hinweg gar nichts. Es waren Erinnerungen an die sieben gemeinsamen Jahre. Tobias hatte das Gefühl, es würde ihm helfen, sich
     über das Bild, das er von Emily hatte, noch einmal ganz klarzuwerden. Er wollte diese Mail irgendwann abschicken, doch dann
     änderte er seine Meinung und behielt sie für sich.

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    »Liebe Emily,
    vor ein paar Tagen habe ich mir einen kleinen Aufsatz für den Gasherd gekauft, auf den man die Espressokanne stellen

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