Vorstadtprinzessin
Gold gesponnen wurde.
Sie war die Vollkommene. Die anderen waren nur Zitate von ihr.
Vampire
D ie Frau sah aus wie der Tod. Die Haut spannte auf ihrem Gesicht, Kiefer- und Wangenknochen zeichneten sich darunter deutlich ab, die Augen lagen tief in den Höhlen. Am Hals hatte sie Flecken und Schnitte, ihre Arme waren unter einem viel zu weiten Pullover verborgen.
Der Kommissar hatte keinen Zweifel daran, dass sich in den Armbeugen zahlreiche Einstiche finden ließen. Die Verletzungen an ihrem Hals waren wohl kaum Knutschflecken, eher Misshandlungen. Er schätzte ihr Alter auf knapp dreißig, doch vielleicht war sie viel jünger.
Er zeigte ihr den Ausweis und konnte in letzter Sekunde verhindern, dass sie die Tür zustieß. Als Lüttich eintrat, flüchtete sie in das dreckige Zimmer, in das ihn Kringel geführt hatte. Von Dirk Kringel keine Spur.
»Sie sind allein hier?«, fragte Lüttich.
Die Frau kauerte sich an den Heizkörper, der sicher kalt war.
»Sie sind weg«, sagte sie, »ich weiß nicht, wohin.« Ihre Stimme klang heiser. Sie räusperte sich nach jeder Silbe.
»Sie?«, fragte Lüttich.
»Dem die Hütte gehört«, sagte sie, »und zwei andere. Kenne sie nicht.«
»Stofflieferanten?«
»Ich bin sauber.«
»Gehört die Hütte Dirk Kringel? Einer, der aussieht wie Dracula?«
Die Frau zuckte die Achseln. »Lassen Sie mich in Frieden.«
»Sagt Ihnen der Name Max Oldelev was?«
Sie rutschte an der Heizung herunter und kam auf den Dielen zu sitzen. »Hauen Sie doch ab. Ich weiß nichts«, sagte sie.
Lüttich kehrte ihr den Rücken zu und sah sich den Rest der Wohnung an. Neben dem Steingutbecken in der Küche lag eine kleine flache Pfanne aus Eisen, kaum größer als ein Suppenlöffel. Die könnte zu einem Heroinbesteck gehören. Für Spiegeleier war sie definitiv zu klein.
Doch sonst sah er nichts, was auffällig gewesen wäre an der elenden Ausstattung dieser Wohnung. Sperrmüll. Jedes einzelne Teil.
Er kam in das erste Zimmer zurück und sah sie noch immer neben der Heizung sitzen. Sie hatte die Augen geschlossen.
»Sie sollten sich ärztliche Hilfe suchen«, sagte Lüttich. Ein verlorener Satz. Er wusste das.
Die schmale Tür im Flur fiel ihm erst beim Hinausgehen auf. Ein Spind, eingebaut und unter einer dicken Lackschicht beinah verborgen. Ein paar Holzbretter darin. T-Shirts. Jeans. Eine schwarze Kulturtasche. Lüttich zog den Reißverschluss auf. Kamm, Seife, Zahnbürste. Zwei Kondome. Gehörte vermutlich irgendeinem Gast dieses Hauses.
Lüttich steckte den Zeigefinger in ein Seitenfach, das leer zu sein schien, und hätte sich beinah an einer losen Rasierklinge geschnitten. War damit der Hals der Frau im Nebenzimmer bearbeitet worden oder hatte Kringel seine spitzen Zähne darin versenkt? Aus dem zweiten Fach, das genauso flach anlag, holte Lüttich einen Zettel hervor. Kariertes Papier, wie aus einem Rechenheft gerissen. Eine Adresse draufgekritzelt.
Lüttich steckte den Zettel ein. Die Tasche stellte er zurück in den Spind, den er Zentimeter für Zentimeter abtastete.
»Ich kann Sie zu einem Arzt bringen«, sagte er in das Zimmer hinein.
»Ich bin schon ein paar Jahre volljährig«, sagte die Frau.
Der Kommissar nickte. Erwachsene hatten das Recht, sich zu ruinieren.
Er stieg die Treppen hinunter und trat aus dem Haus. Den Strafzettel unter dem Scheibenwischer konnte er sich nicht erklären.
»Versau es nicht«, hatte der Typ gesagt, »der Doktor geht das nächste Mal nicht mehr so sanft mit dir um.«
Der Typ wollte kein Geld für die Liege im Keller. Max hatte nur den Job zu erledigen, der unter dem Decknamen Lila Pause lief. Dann war man quitt. Beim ersten Versuch hatte Max die Fliege gemacht. Keiner von denen auf dem Schulhof sah älter aus als fünfzehn. Und er hatte den großen Bruder zu geben, der was Leckeres in den Taschen bereithielt. Lila Tabletten verteilen. Geiles Gefühl, wenn man die schluckte. Man wurde zum genialen Wichtigtuer.
Später konnten die Kids das lila Zeug in Zwölfer-Schablonen kaufen. Tabletten, die aussahen wie die Veilchenpastillen, die Max’ Opa lutschte. Eine Sechzehnjährige war daran gestorben, weil sie allergisch auf den Chemiecocktail reagierte. Ein Vierzehnjähriger, weil er eine zu hohe Dosis nahm.
Max hatte Schiss. Dass einer von den Kids auf dem Schulhof in die Kiste sprang und er war schuld. Er hatte außerdem ein Gewissen, weil er selbst ein großer Bruder war und jedem an den Hals gegangen wäre, der Lucky oder Mia das Zeug hätte
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