Vorstadtprinzessin
Rock trug, war zu eng. Die Knöpfe hielten kaum die ganze Pracht. Gleich platzen sie, dachte Theo und grinste.
Pa stieß ihn an. Doch Ellerbek hätte ihm den Gedanken verziehen.
Ellerbek, der vor zweiundachtzig Jahren geboren worden war. Ein Haus gebaut hatte, einen Sohn gezeugt und die Hecke geschnitten.
Der jetzt da vorne im Sarg lag und all die weißen Levkojen um ihn herum und die brennenden Kerzen. Ein wärmendes Feuer. Das hatte er gern.
»Hüte dich vor dem Teich.« Was bedeutete das?
Der alte Ellerbek fehlte ihm. Schon jetzt.
»Ich weiß, dass mein Erlöser lebt«, sang der Chor zu den Klängen der Orgel, als der Sarg aus der Kirche getragen wurde. Pa und Ma würden noch mit zum Friedhof gehen und eine Schaufel Sand auf den Sarg werfen. Theo würde Ellerbeks Heckenschere holen, die oben in seinem Zimmer lag, und anfangen, den Liguster zu schneiden.
Leni nahm den hochglänzenden Prospekt des Internats am Genfer See, den Paps ihr hingelegt hatte, und warf ihn in den Kamin. Kein Feuer im Kamin, nur Asche, doch Leni war zufrieden mit der Symbolik.
Paps hatte noch ein paarmal davon angefangen, sch ien aber nun endlich begriffen zu haben, dass er das mit ihr nicht machen konnte.
Seit gestern schwieg er. Doch er litt. Leni zuckte mit den Achseln.
Nur noch vier von den lila Tabletten in ihrer Tasche.
Eigentlich waren sie langweilig, diese Tabletten. Euphorie. Herzklopfen. Ende. Gab doch bestimmt was Besseres. Max, dachte Leni. Der hatte sicher noch anderes im Angebot. Wo der nun steckte? Eine kleine SMS könnte er doch wohl absetzen.
Max schrieb die SMS einen Tag später, kaum dass er ein Handy aus der Hand des Typen entgegengenommen hatte. »Gruß vom Doktor«, hatte der gesagt, »du willst doch Kontakt zu deinem Goldeselchen halten. Versteh das als weitere Bewährungsprobe.«
Max saß auf der Liege im Keller, als er die Nachricht tippte. Der Keller war ganz in der Nähe des Friedhofs Finkenriek, auf dem Sarah beerdigt worden war. Doch das wusste Max nicht.
Er hatte eine harte Woche hinter sich, seit er Leni in der Schanze hatte zurücklassen müssen. Eine Schulung, nannte der Doktor das, was er mit Max durchzog. Keine Schulhöfe. Die Sommerferien waren in vollem Gange. Dafür wurde er jetzt zu den Ferienlagern gekarrt und den Stränden der Ostsee, trieb sich in der Nähe von Jugendlichen herum, quatschte sie an, hoffte darauf, dass die Kids gelangweilt genug waren, um Lust auf ein paar Drogen zu haben, und versuchte, seiner Angst und seiner Skrupel Herr zu werden. Er war mäßig erfolgreich gewesen.
»Sehnsucht nach dir«, tippte er ein. »Dienstag, dreizehnter Juli, um zwei?«
Er schlug ein Lokal im Portugiesenviertel nahe der Landungsbrücken vor. Das war ihm vom Doktor als Treffpunkt empfohlen worden, und der schätzte es gar nicht, wenn man ihm widersprach.
Die Antwort von Leni kam nach zwei Minuten. Der Doktor konnte zufrieden mit ihm sein. Dienstag beim Portugiesen.
Lüttich fühlte eine große Müdigkeit über sich kommen, als er das Mädchen im Tümpel liegen sah. »Die liegt noch nicht lange da«, sagte der Rechtsmediziner. »Ich will nicht vorgreifen, doch tot ist sie schon eine ganze Weile. Schätze, drei Wochen. Das heißt, sie muss vorher woanders gelegen haben.«
Das Mädchen war kaum mehr erkennbar. Nur ihr hellblondes Haar wehte noch um das zerstörte Gesicht, als ein kleiner Sommerwind aufkam. Dennoch wusste der Kommissar sehr bald schon, dass es Hortensia war. Eine silberne Kette hing an ihrem Hals. Der kleine Anhänger, der auf der Vorderseite eine der Putten von Raffael zeigte, hatte auf der Rückseite Zeichen, die Lüttich für kyrillisch hielt. Doch er wurde aufgeklärt, dass es georgische Buchstaben waren, die den Kosenamen Tensi bildeten.
Das Kettchen war nicht das Einzige, was um Hortensias Hals hing.
Erst hatten sie es für eine Schlingpflanze aus dem Tümpel gehalten, ein durchnässtes Kraut. Doch es war ein nasser kleiner Fellkragen.
Er würde sich später als Kaninchenfell herausstellen.
Für den Gummistiefel in der Kindergröße 30, den sie aus dem Tümpel holten, fanden sie keine Erklärung.
Lüttich saß an seinem Schreibtisch und starrte auf das Ergebnis der Obduktion. Die drei Wochen, die der Rechtsmediziner nach dem Leichenfund geschätzt hatte, bestätigten sich. Wahrscheinlicher Zeitpunkt des Todes war der zwanzigste oder einundzwanzigste Juni. Mittsommer. Was für ein Idiot war er gewesen, als er damals geglaubt hatte, die Gefahr sei mit dem letzten
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