Vorstadtprinzessin
Totenstill. Kein Funken Licht im Haus. Nicht mal ein Irrwisch.
»Willst du nicht drüben warten, Ma?«
»Nein«, sagte Ma.
Dass die Kellertür nachgab, wenn man das Schloss bewegte und die Klinke nach oben drückte, hätte Theo lieber für sich behalten. Als er ein Kind gewesen war, hatte er diesen Keller ab und zu als Zufluchtsort genutzt. Vielleicht hatte Ellerbek sogar davon gewusst.
Suchte Pa auch eine solche Zuflucht?
»Glaubt ihr wirklich, dass er im Haus ist?«, fragte Ma.
Er hatte sich in Ellerbeks Sessel gesetzt und war mit dem Album in den Händen eingeschlafen. Theos Vater wachte auf, als er ein Geräusch aus dem Keller hörte. Doch er blieb still sitzen im Sessel.
Das Album mit den Bildern von Annika lag ihm noch immer auf dem Schoß, als das Licht angeschaltet wurde und seine Frau ins Zimmer trat und Theo und Lucky.
Vor zwanzig Jahren hatte er es nicht ertragen, diese Bilder im eigenen Haus zu verwahren, und das Album den Ellerbeks anvertraut. Nach dem Tod des Alten hatte er jeden Tag vorgehabt, es zu holen. Vielleicht ließ er endlich nur noch Trauer zu und vergaß seinen Zorn.
»Das Album gibt es also noch«, sagte Ma.
Hatte sie nicht glauben müssen, dass er es weggeworfen habe?
»Wir haben dich überall gesucht, Pa.«
»Sogar im Wald«, sagte Lucky.
Gerd Ansorge nickte. »Sogar im Wald«, wiederholte er.
»Ich habe das Album sehr vermisst«, sagte Ma.
Theo sah zwischen seinen Eltern hin und her.
Hätte das nicht der Augenblick sein müssen, wo Pa aufstand, um Ma zu umarmen? Doch seine Mutter wandte sich ab, öffnete die vordere Tür, schlug sie hinter sich zu und lief davon.
»Die Hüterin des Hauses«, schrie Pa.
Der Zorn war noch immer nicht vergangen.
Sentimentalitäten
T heos Vater tat den Schlüssel in das Holzkästchen zurück, das er in der Schublade seines Nachttisches verwahrte. Dort lag der Schlüssel zu Ellerbeks Haus zwischen vier Kondomen, zwei Kalenderblättern und einer Locke seiner kleinen Tochter.
Sie hatten nur kurz miteinander geredet, Gesa und er. Über den Verrat, ein Album zu verstecken. Den Verrat, einen Garten genießen zu wollen, in dem Schreckliches geschehen war.
Er war schon immer ein Mensch gewesen, dem es schwerfiel, Gefühle zu zeigen. Doch seit Annikas Tod hatte er sich hinter einer noch höheren Mauer verschanzt. Zwanzig Jahre lang. Theo hatte es nie anders gekannt. Gestern hatte es einen Moment gegeben, wo erste Steine der Mauer bröckelten. Der Moment ging vorüber. Die Mauer stand.
Gerd Ansorge erinnerte sich gut an den Tag, an dem der alte Nachbar ihm den Schlüssel gegeben hatte. Ellerbeks Frau war noch nicht lange tot gewesen. Den befürchteten Notfall hatte es bis zum Tod des alten Mannes nicht gegeben. Der Schlüssel war in der Schublade geblieben.
Bis gestern. Und nun war es still im Haus. Gesa nicht da. Theo hinter Büchern hockend. Sprachlos.
In der Verwaltung hatte er sich krankgemeldet. Das war lange nicht vorgekommen, wenn er auch nicht immer anwesend gewesen war.
In früheren Zeiten hatte er es verachtenswert gefunden, sich Abwesenheiten im Amt zu gönnen. Doch diese Zeiten waren vorbei.
Gerd Ansorge ging in den Garten und betrachtete die Kübel mit dem Eisenkraut, den Löwenmäulern, den Lupinen.
Er ahnte nicht, dass Theo ihn vom Fenster des Schlafzimmers aus beobachtete. Er blickte nicht hoch.
»Sogar im Wald«, hatte Lucky gestern Nacht gesagt.
Lucky. Der einzige Freund seines Sohnes.
Ansorge legte die Hand auf die Köpfe der Lupinen und streichelte sie und entschied, einen Spaziergang zu machen.
Der Wald, der hinter Ellerbeks Haus anfing, war einsam. Theos Vater brach auf, um dort die Stille zu suchen.
14 J stand in der Jacke von Petit Bateau, die Maman ihr geschenkt hatte, als Leni vierzehn Jahre alt und alles noch gut gewesen war.
Ein helles Mint, das gut zu ihren Augen passte. Doch nun zu klein.
Leni zog sie dennoch an. Unter der Jacke nur gebräunte nackte Haut. Dazu weiße Jeans. Sie schüttelte ihr Haar und sah im Spiegel, dass es sich wie ein Heiligenschein um ihre Schultern legte. Leni ahnte nicht, dass dem Kommissar dieser Vergleich in den Kopf gekommen war, als er das Bild einer Toten betrachtet hatte.
Eine Verschwendung von Schönheit, nur in den Garten zu gehen, sich auf eine der neuen Korbliegen zwischen Lavendel und Oleander zu betten, die Hummeln summen zu hören und nicht mal Lucky und Theo dazu einzuladen. Doch es war die beste Gelegenheit, die weißen Tabletten in höherer Dosis zu probieren.
Weitere Kostenlose Bücher