Vorstadtprinzessin
Frau Hansen hatte einen freien Tag. Paps kam erst spät am Abend.
Leni trat an das Sideboard und nahm eines der hohen Gläser, um es mit Campari und Soda zu füllen. Sie überlegte, eine CD einzulegen, und entschied sich dagegen. Lieber sich auf das Wesentliche beschränken, dachte sie, als die vier Tabletten vor ihr lagen.
»Bloß nicht überdosieren«, hatte Max der Schisser gesagt.
Leni legte die erste Tablette auf die Zunge und trank einen großen Schluck Campari. Die zweite. Bei der dritten klingelte ihr Handy.
Leni ignorierte es und goss noch einmal Soda nach, um die vierte der Tabletten zu nehmen. Sie ging in den Garten hinaus und setzte sich auf die Korbliege, deren Kissen provenzalische Muster hatten. Blau und Grün. Wie das Gesicht von Max damals beim ersten Treffen.
Sie blickte über den Rasen und dachte, dass viel Platz für einen großen Pool wäre. Maman hatte einen Pool in Gassin, obwohl das Meer doch so nahe war. Vier Tabletten. Nichts tat sich.
Leni nahm den letzten großen Schluck und lehnte sich zurück.
Und auf einmal fielen die Bäume auf sie und dann auch der Himmel.
Die Gitarre lag in Blättern gebettet in der Krippe eines Futterstandes.
Eine Gitarre aus einer spanischen Werkstatt. Eine Alhambra. Diese war rötlich und aus massivem Zedernholz und hatte Sarah gehört.
Die Krippe stand im Holsteinischen. Jenseits der Stadtgrenze.
Die Alhambra hatte vor allen Wettern geschützt in ihrer Tasche gelegen und die Zeit seit dem 7. Juni trocken überstanden. Lüttich hatte kaum Zweifel, dass sie am Tage von Sarahs Tod dort abgelegt worden war.
Beinah behutsam abgelegt. Behutsamer als Sarah und Hortensia.
»Warum legt er sie in eine Krippe, die kilometerweit entfernt ist?«, fragte er seine Kollegin. »Und warum hat er Hortensia nicht gleich in den Wald gelegt? Warum der Umweg über den Schuppen?«
»Sind wir sicher, dass es ein Er ist?«
»Das ist die Handschrift eines Mannes«, sagte der Kommissar. »Und denk an das dunkle Haar, das auf diesem Wacholder hing.«
»Waldmeister«, sagte Imke Karle. »Das Haar kann von einem Unbeteiligten gewesen sein. Und ansonsten haben wir an den Mädchen keine fremde brauchbare DNA entdeckt.«
»Ich bin um diesen Zeitpunkt, an dem Hortensia getötet wurde, ein paar Mal durch den Wald gelaufen. Sonntag und Montag«, sagte Lüttich.
»Da hast du deine Erklärung, warum er den Umweg über den Schuppen genommen hat«, sagte Imke spöttisch. »Zu viel Polizeipräsenz.«
»Aber warum hat er sie nicht da liegen lassen, sondern sie drei Wochen später noch mal umgebettet?«
»Ein Waldfreund«, sagte seine Kollegin.
»Er will uns was sagen«, sagte der Kommissar.
»Und was hat dieser Nils Freiweg gesagt?«
»Freygang«, korrigierte Lüttich. »Er ist in den Wald gegangen, um die fünfzehn Strophen eines Liedes zu lernen. ›Geh aus mein Herz und suche Freud.‹ Und dann findet er eine Leiche.«
»Ein Lied von Paul Gerhardt«, sagte Imke Karle.
»Was?«
»Ein evangelisches Kirchenlied aus dem siebzehnten Jahrhundert.«
»Was du alles weißt. Jedenfalls singt Freygang in einem Chor. Sieht ein bisschen schräg aus. Als sei er als Ratte zurechtgemacht. Schwarze Knopfaugen. Spitze Schnauze. Graues Fell.«
»Hört sich freakig an«, sagte Imke Karle. »Vielleicht ist er der Täter. Trägt das tote Mädchen vom Schuppen in den Wald und will dann auch, dass sie schnell gefunden wird. Also tut er es selbst.«
»Glaube ich nicht«, sagte Lüttich. Er überlegte noch, wann er das letzte Mal von einer Ratte gehört hatte. Petersens Worte fielen ihm erst ein, als er bereits auf dem Weg zu Hortensias Gasteltern war.
Theos Vater war nicht weit gekommen. Er hatte schon bald vor dem Absperrband gestanden, das um ein großes Areal gezogen war.
Ein Mann in Jeans und einem kurzärmeligen bunten Hemd hatte ihn aufgehalten, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Wald erst morgen wieder betreten werden durfte. Gerd Ansorge war höflich nach seinem Ausweis gefragt worden und hatte ihn erst vorgezeigt, nachdem er den des Kripomannes studiert hatte.
Ordnung muss sein, dachte er, als er an seinem Haus vorbeiging, um im Tre Castagne ein Bier zu trinken. Noch zog es ihn nicht wieder nach Hause. Der schweigende Theo. Die abwesende Gesa.
Es war ihm peinlich, Freygang in dem Lokal sitzen zu sehen. Vielleicht hatte der sich auch heute Morgen krankgemeldet. Dann wären sie quitt. Er nickte dem Kollegen zu, und ihm fiel ein, dass Freygang seit Tagen nicht im Amt gewesen war.
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