Vortex: Roman (German Edition)
erste Tag in der State Care fällt vielen schwer, aber glaub mir, es ist halb so schlimm. Abendessen um sechs in der Kantine.«
Orrin wirkte leicht verunsichert. »Ist das eine Art Cafeteria?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, ob es da laut ist? Ich mag keinen Lärm beim Essen.«
Laut? Die Patientenkantine war ein Zoo und im Allgemeinen auch entsprechend laut, obwohl das Personal für Sicherheit sorgte. Lärmempfindlich, notierte Sandra. »Es kann da ein bisschen laut werden, ja. Meinst du, du kommst klar damit?«
Orrin wirkte niedergeschlagen, nickte aber. »Ich glaube schon. Danke für Ihre Offenheit, ich weiß das zu schätzen.«
Noch eine verlorene Seele – nur zerbrechlicher und weniger aggressiv als die meisten. Sandra hoffte inständig, dass ihm die Woche hier mehr nutzen als schaden würde. Aber darauf wetten wollte sie nicht.
Zu ihrer Überraschung wartete draußen vor dem Zimmer der Officer, der Orrin gebracht hatte. Normalerweise lieferten sie jemanden ab und gingen wieder. Die State Care war eingerichtet worden, um in den schlimmsten Jahren des Spins die überfüllten Gefängnisse zu entlasten. Und obwohl sich die Lage vor einem Vierteljahrhundert entspannt hatte, diente die Institution immer noch als Auffangbecken für Kleinkriminelle mit psychischen Auffälligkeiten. Praktisch für die Polizei – aber nicht für den überforderten und unterbezahlten Mitarbeiterstab der State Care. Nur selten wurde noch einmal nachgefasst; soweit es die Polizei betraf, war eine Überstellung gleichbedeutend mit dem Schließen der Akte – oder mit dem Betätigen der Wasserspülung.
Boses Uniform sah wie frisch gebügelt aus, und das bei der Hitze. Er wollte wissen, welchen Eindruck sie von Orrin Mather gewonnen hatte, und weil die Mittagspause schon begonnen hatte und Sandras Nachmittag ausgebucht war, lud sie ihn ein, mit in die Kantine zu kommen – die Personal-, nicht die Patientenkantine, die Orrin ganz sicher nicht gefallen würde.
Sandra nahm wie immer ihre Montagssuppe und einen Salat und wartete auf Bose, der es ihr gleichtat. So spät, wie sie waren, hatten sie kein Problem, einen freien Tisch zu finden. »Ich möchte Orrin nicht aus den Augen verlieren«, sagte Bose.
»Höre ich da richtig?«
»Was meinen Sie?«
»Die Polizei von Houston ist im Allgemeinen nicht so anhänglich.«
»Vermutlich nicht. Aber in Orrins Fall gibt es ein paar offene Fragen.«
Ihr fiel auf, dass er »Orrin« sagte und nicht »der Häftling« oder »der Patient«; offenbar hatte Officer Bose ein persönliches Interesse an dem Fall. »Ich sehe nichts Ungewöhnliches in der Akte.«
»Sein Name taucht im Zusammenhang mit einem anderen Fall auf. Ich darf nicht ins Detail gehen, aber … hat er seine Schreiberei erwähnt?«
Sandra hob eine Augenbraue. »Ganz kurz, ja.«
»Als man ihn festnahm, hatte Orrin eine Ledertasche mit einem Dutzend linierter Hefte dabei, alle vollgeschrieben. Die hat er verteidigt, als er angegriffen wurde. Orrin ist im Grunde ein kooperativer Bursche, aber wir hatten alle Mühe, ihm die Hefte abzunehmen. Wir mussten ihm versprechen, darauf aufzupassen – er wollte sie unbedingt zurückhaben, sobald sein Fall geklärt sei.«
»Und? Hat er sie zurück?«
»Noch nicht, nein.«
»Wenn ihm die Hefte so viel bedeuten, könnten sie für meine Beurteilung aufschlussreich sein.«
»Das leuchtet mir ein, Dr. Cole. Darum unser Gespräch. Die Sache ist die: Der Inhalt dieser Hefte hängt mit einem anderen Fall zusammen, den wir bearbeiten. Ich lasse sie gerade abschreiben, aber das ist ein mühseliger Prozess – Orrins Handschrift ist nicht leicht zu entziffern.«
»Kann ich die Abschriften sehen?«
»Genau das wollte ich Ihnen vorschlagen. Aber ich muss Sie um einen Gefallen bitten. Solange Sie nicht den gesamten Text kennen, darf die Sache nicht aktenkundig werden. Okay?«
Das war ein seltsames Ersuchen, und Sandra antwortete nur zögernd. »Ich bin mir nicht sicher, was Sie unter aktenkundig verstehen. Jede wichtige Erkenntnis fließt mit in die Diagnose ein. Das ist nicht verhandelbar.«
»Sie können jede Erkenntnis berücksichtigen, solange Sie keine Textstellen kopieren oder zitieren. Nicht, bevor wir bestimmte Dinge geklärt haben.«
»Officer Bose, Orrin ist ganze sieben Tage in meiner Obhut. Dann muss ich eine Empfehlung aussprechen.« Sandra fügte nicht hinzu, dass diese Empfehlung Orrin Mathers Leben drastisch verändern würde.
»Schon verstanden, und ich will mich auch nicht einmischen.
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