Vortex: Roman (German Edition)
Was mich interessiert, ist Ihre Bewertung. Ich wüsste gerne – inoffiziell, versteht sich –, was Sie von dem Text halten. Wie … verlässlich er ist.«
Langsam dämmerte es Sandra. Etwas von dem, was Orrin aufgeschrieben hatte, war möglicherweise von entscheidender Bedeutung für ein anhängiges Verfahren, und Bose musste wissen, wie glaubwürdig es (oder sein Autor) war. »Falls Sie mich als Zeugin in einem Prozess …«
»Nein, nichts dergleichen. Nur eine Rückversicherung. Alles, was nicht die Intimsphäre des Patienten verletzt oder auf andere professionelle Bedenken stößt.«
»Ich weiß nicht, was Sie …«
»Vielleicht verstehen Sie es ein bisschen besser, wenn Sie das Dokument gelesen haben.«
Es war Boses ernster Gesichtsausdruck, der sie schließlich umstimmte. Sie war natürlich neugierig auf die Hefte und warum sie so wichtig waren für Orrin. Sollte sie allerdings etwas klinisch Relevantes entdecken, würde sie keine Skrupel haben, das Versprechen, das sie Bose gegeben hatte, zu ignorieren. Und das machte sie ihm auch unmissverständlich klar – ihre Loyalität galt in erster Linie dem Patienten.
Er war ohne Wenn und Aber einverstanden. Als er aufstand, hatte er noch nicht aufgegessen; zurück blieb ein grünes Salatbett, aus dem er systematisch alle Kirschtomaten herausgepickt hatte. »Danke, Dr. Cole. Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen. Sie bekommen die ersten Seiten heute Abend per E-Mail.«
Er gab ihr seine Karte vom Houston Police Department mit Telefonnummer, E-Mail-Adresse und seinem vollen Namen: Jefferson Amrit Bose. Sie murmelte den Namen vor sich hin, während sie zusah, wie er in einem Schwarm weiß gekleideter Schwestern verschwand.
Nach einem Tag voller Routine-Konsultationen fuhr Sandra unter dem flach einfallenden Licht der Sonne nach Hause.
Der Sonnenuntergang ließ sie oft an den Spin denken. Die Sonne war in den drastisch verkürzten Jahren des Spins gealtert und angeschwollen, und wenn sie am westlichen Himmel jetzt so normal aussah, war das eine ziemlich gut gemachte Illusion. Die echte Sonne war ein greises, aufgeblähtes Monster, das im Zentrum des Systems seinen Todeskampf focht – und was man am Horizont sah, war das, was die Hypothetischen aus der tödlichen Strahlung gemacht hatten. Seit Jahren – seit Sandra erwachsen war – war die Menschheit auf die geheimnisvolle Technik dieser fremden und stummen Wesen angewiesen.
Das harte Blau des Himmels wurde im Südosten von Wolken verdüstert, die an gläserne Korallenbänke erinnerten. 40,5 Grad Celsius in der Stadtmitte von Houston, wenn man dem Wetterbericht glaubte – nicht anders als gestern und vorgestern. In den Nachrichten ging es ausschließlich um die laufenden Starts in White Sands: Raketen impften die obere Atmosphäre mit Schwefel aerosolen, um die globale Erwärmung zu verlangsamen. Gegen diese drohende Apokalypse, für die sie nichts konnten, hatten die Hypothetischen keine Hilfe angeboten. Sie nahmen die Erde vor der expandierenden Sonne in Schutz, aber der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre schien sie nichts anzugehen; das war Sache der Menschen. Und dennoch krochen die Öltanker den Houston Ship Channel herauf, zumal das Rohöl inzwischen reichlich und billig aus der neuen Welt jenseits des Torbogens floss. Fossiler Brennstoff von zwei Planeten, um uns gar zu kochen, dachte Sandra. Das angestrengte Rauschen der Klimaanlage unterstrich ihre Heuchelei, aber sie konnte auf den kühlen Luftstrom nicht verzichten.
Seit sie ihr Medizinpraktikum an der UCSF beendet und bei der State Care angefangen hatte, hatte Sandra ihre Zeit damit verbracht, psychisch auffällige Menschen einem Test zu unterziehen, der von den meisten »normalen« Erwachsenen mühelos bestanden wurde. Kann sich der Betreffende in Zeit und Raum orientieren? Begreift der Betreffende die Folgen seines Tuns? Aber würde sie die ganze Menschheit diesem Test unterziehen, dachte Sandra, wäre das Ergebnis ziemlich ungewiss. Der Betreffende ist verwirrt und häufig selbstzerstörerisch. Er verfolgt kurzfristige Befriedigung auf Kosten seiner Gesundheit.
Als sie ihr Apartment in Clear Lake erreichte, war es bereits dunkel und die Temperatur um ein, zwei Grad gefallen. Sie schob ihr Abendessen in die Mikrowelle, öffnete eine Flasche Rotwein und sah nach, ob Bose inzwischen die E-Mail geschickt hatte.
Er hatte. Ein paar Seiten. Seiten, die Orrin Mather angeblich geschrieben hatte. Sie sah aber sofort, wie unwahrscheinlich das war.
Sie
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