Vortex: Roman (German Edition)
geneigt, die Augen auf die schwankenden Baumkronen gerichtet.
»Ich habe gestern einen Brief von Orrin Mather bekommen.« Boses Freunde hatten sich, wie zu erwarten, während der Ermittlungen nach dem Feuer großzügig gezeigt und Orrin und seiner Schwester eine Bleibe besorgt, wo sich weder Polizei noch Kriminelle blicken ließen. »Er arbeitet halbtags in einer Gärtnerei. Seine Schulter heilt prima, schreibt er. Er wünscht mir und Officer Bose alles Gute. Und er sagt, es macht ihm nichts aus, dass ich seine Hefte lese.«
( Ich hätte es Ihnen erlaubt, hatte Orrin geschrieben, wenn Sie mich gefragt hätten, und sie hatte den Vorwurf akzeptiert.)
»Er sagt, ich hätte alles gelesen, was er jemals geschrieben hat, bis auf ein paar Seiten, die erst in Laramie fertig wurden. Er hat sie mitgeschickt. Hier, siehst du – ich habe sie mitgebracht.«
(Sie können diese Seiten behalten, hatte Orrin geschrieben. Ich brauche sie nicht mehr. Ich glaube, ich habe das jetzt hinter mir. Vielleicht verstehen Sie das alles ja.)
Sie lauschte auf den Bach, der durch den Hain murmelte. Heute war das Wasser flach und glasklar. Vermutlich würde es irgendwann in den Golf fließen – oder verdunsten, um als Regen auf ein Kornfeld in Iowa zu fallen oder als Schnee auf eine Stadt irgendwo im Norden.
Die Summe aller Pfade, dachte Sandra.
Dann nahm sie die Seiten, die Orrin mitgeschickt hatte, und begann laut zu lesen.
32
ISAAC / ORRIN / DIE SUMME ALLER PFADE
Mein Name ist Isaac Dvali, und das ist nach dem Ende der Welt geschehen.
Am Ende gehörte Vox mir. Seine Bevölkerung (die ich gehasst hatte) war tot (was ich bedauerte), und außer mir lebten nur noch Turk Findley und die Impersona Allison Pearl.
Wollen Sie mir vorwerfen, dass ich Vox gehasst habe?
Diese Menschen haben mich wieder zum Leben erweckt, als ich nur einen Wunsch hatte – den Wunsch zu sterben. Sie glaubten, ich sei mehr als nur ein Mensch, als ich in Wahrheit weniger als ein Mensch war. Sie haben mir nur Schmerzen und Verwirrung beschert.
Ich sei bei den Hypothetischen gewesen, behaupteten sie, »berührt« hätten mich die Hypothetischen; aber das stimmte nicht. Weil es die Hypothetischen (wie Vox sie sich vorstellte) einfach nicht gab.
Mein Vater hat mich so gemacht, dass ich die Gespräche der Hypothetischen hören konnte, ihr Flüstern und Raunen zwischen den Sternen und Planeten. Und mit der Zeit begriff ich, dass die Hypothetischen ein Prozess waren, eine Ökologie, kein Organismus. Das hätte ich meinen Peinigern erklären können – aber sie hätten sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, und nichts wäre erreicht gewesen.
Die Hypothetischen waren bereits Jahrmilliarden alt, als sie zum ersten Mal in die Menschheitsgeschichte eingriffen.
Sie waren aus den ersten Zivilisationen der Galaxis hervorgegangen, lange bevor die Erde und ihre Sonne aus dem interstellaren Staub entstanden waren. Wie die ersten Weizentriebe im Frühling waren diese Protozivilisationen empfindlich, verletzlich und einsam. Keine von ihnen überlebte die Erschöpfung und den ökologischen Kollaps ihrer Wirtsplaneten.
Doch bevor sie starben, schickten sie Flotten sich selbst reproduzierender Maschinen in den interstellaren Raum. Sie waren konstruiert, um die nächsten Sterne zu erforschen und alle Daten, derer sie habhaft wurden, nach Hause zu schicken – was sie selbst dann noch beharrlich und zuverlässig taten, als ihre Erbauer längst nicht mehr existierten. Sie zogen von Stern zu Stern, konkurrierten um seltene, schwere Elemente, tauschten Verhaltensmuster und Bruchteile von Betriebscode aus, veränderten und optimierten sich. Sie waren in gewisser Hinsicht intelligent, aber sie hatten nie so etwas wie Bewusstsein entwickelt und würden es auch in Zukunft nicht tun.
Was da in die Leere und zu den Sternoasen der Milchstraße geschickt worden war, war die unerbittliche Logik von Reproduktion und natürlicher Auslese. Und was folgte, war Parasitismus, Plünderung, Symbiose, gegenseitige Abhängigkeit – Chaos, Komplexität, Leben.
Ich hasste die Bevölkerung von Vox – die ich kollektiv hassen durfte, weil sie sich wie ein Kollektiv verhielt. Ich hasste sie für ihren limbisch verankerten Aberglauben und weil sie mich aus dem Nichts des Todes in die Qualen meines Leibes zurückgeholt hatte. Nicht hassen konnte ich dagegen Turk Findley und die Frau, die entschlossen war, Allison Pearl zu sein.
Turk und Allison waren gebrochene und unvollkommene Individuen –
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