Vortex: Roman (German Edition)
Schulter gestreift. Sandra besah sich die Wunde, als hätte man sie aus diesem Hexenkessel zurück in ihr Medizinpraktikum gebeamt. Die Wunde blutete, aber es war nicht allzu schlimm. Sie half Orrin aus Findleys in Boses Wagen. Als sie sich aufrichtete, nahm Bose sie beim Arm, damit sie ruhig hielt, und untersuchte ihr Gesicht. »Sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte sie und spuckte ein Blutgerinnsel auf den nassen Gehsteig.
»Wir müssen hier weg«, sagte Bose.
Findley stand am Bordstein und blickte über die Straße.
Dort drüben stand Turk, sein Sohn, und Sandra meinte zu sehen, wie Wellen an Mutmaßung und Bestürzung Findleys Bewusstsein erschütterten.
»Er weiß, was Sie tun«, sagte sie mit fester Stimme, wobei ihr der lose Zahn und die anschwellende Backe im Weg waren. »Er weiß alles darüber, Mr. Findley.«
Findley blickte sie an, Wut und Verwirrung flackerten in seinem Gesicht.
Sandra ignorierte ihn und sah zu Turk. Der Junge zog sich die Kapuze des Ponchos über den Kopf und wandte sich von seinem Vater ab – eine Geste der Verachtung. Es zog ihn fort von hier, das war deutlich zu spüren. Es war seine Körpersprache, wie er die Schultern hochzog und sein Kreuz durchdrückte. In Orrins Geschichte hatte es sich anders zugetragen – und doch irgendwie genau so. Turk suchte sein finsteres Land auf – aber ein anderes, als Orrin Mather ihm zugedacht hatte.
Findley sah seinen Sohn diesen langen Weg antreten. »Warte«, rief er kleinlaut.
Turk hörte ihm nicht zu. Er ging am Fenster des Lokals vorbei, das sich im nassen, orange wabernden Asphalt spiegelte. Dann bog er um eine Ecke. Findley starrte noch in den Regen, als nichts mehr von seinem Sohn zu sehen war.
Sandra glitt auf den Rücksitz von Boses Wagen und suchte nach etwas, womit sie Orrins Wunde verbinden konnte. Bose holte das Erste-Hilfe-Etui aus dem Handschuhfach und reichte ihr eine Mullbinde nach hinten.
Die Wunde hatte stärker geblutet, als sie gedacht hatte, aber ein paar Stiche würden genügen, um sie zu schließen. Das traute sie sich noch zu, falls es Bose zu riskant war, eine Ambulanz aufzusuchen. »Halt das fest«, wies sie Orrin an und legte seine freie Hand auf den Mull. »Geht das so?«
Er nickte. »Danke«, sagte er mit seltsam ruhiger Stimme.
Dann fuhr Bose an dem brennenden Van vorbei und bog ein paar düstere Seitenstraßen weiter zum Highway ab. Der Highway war wie ausgestorben und der Niederschlag so dicht wie Nebel – eine einzige regengepeitschte Dunkelheit. Bose fuhr mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf die Stadt zu, von der nichts zu sehen war.
30
TURK
Als wir nach Vox flogen, spielte der Himmel verrückt. Die Außentemperatur stieg so stark, dass die akustischen Sensoren des Transporters periodisch Alarm schlugen. Die Morgendämmerung war viel zu hell, und als die Sonne aufging, sah sie aufgebläht aus – aufgebläht und bedrohlich. Aber es war nicht die Sonne, die sich verändert hatte; verändert hatte sich die schützende Barriere rings um die Erde.
Während der ersten unruhigen Jahre nach dem Ende des Spins hatten die Menschen spekuliert, was wohl geschehen würde, wenn die Hypothetischen die Barriere wieder entfernten. Die Antwort war so entsetzlich, dass sie undenkbar war. Und was immer sie für Absichten hatten, wie undurchschaubar ihre Motive waren, die Hypothetischen waren offenbar fest entschlossen gewesen, menschliches Leben zu erhalten; also hatten wir uns der Illusion von Normalität hingegeben und allmählich vergessen, dass diese Illusion alles andere als normal war – was vermutlich genau ihren Erwartungen entsprach.
Aber ich weiß noch, was die Astrophysiker gesagt hatten. Während des Spins war die Sonne um fast vier Milliarden Jahre gealtert. Und Sonnen dehnen sich aus, wenn sie altern, und verschlingen ihre Planeten. Ohne das kontinuierliche Eingreifen der Hypothetischen würde sich die Atmosphäre der Erde verflüchtigen, die Meere würden verdunsten wie Regenpfützen an einem Julinachmittag, der Gesteinsmantel würde anfangen sich zu verflüssigen.
Und nun war es so weit. Die Barriere war gefallen.
Die Strahlung bestimmte bereits das Wetter. Wir flogen nach Süden Richtung Antarktis, flogen in der unteren Stratosphäre, wichen Gewitterfronten aus, die wie schwarze, flüssige Gebirge emporbrodelten. Und als wir uns Vox näherten – als wir in böige Winde und strömenden Regen tauchten –, informierte uns der Transporter, dass er an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit
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