Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
Vom Netzwerk:
Mutter so aufregten – es war seine Arbeit.
    Ihre Scham und ihr Unbehagen drückten sich in Kleinigkeiten aus. Zum Beispiel nahm sie keinen Anruf entgegen, wenn ihr die Nummer nicht bekannt war. Wir besuchten nur selten Verwandte und bekamen nie Besuch von ihnen. Meine Mutter wurde mit den Jahren still, missmutig und einsam. Als Teenager verbrachte ich immer mehr Zeit außer Haus – eigentlich so viel wie möglich. Besser die Straße als die zugezogenen Vorhänge und geflüsterten Unterhaltungen.
    Vielleicht klingt das alles schlimmer als es war. Uns ging es doch gut. Wir hatten Geld; ich besuchte eine ordentliche Schule. So mysteriös die Geschäfte meines Vaters waren, er hatte Erfolg damit. Ich bekam Auseinandersetzungen am Telefon mit, bei denen er sich grundsätzlich durchsetzte. Manchmal besuchten ihn Männer in frisch gebügelten Anzügen, und ich hörte sie ausgesucht freundlich und ehrerbietig mit ihm sprechen. Ja, hin und wieder fragte ich mich, ob mein Vater ein Verbrecher war, doch die Vorstellung schien absurd. Vielleicht ignorierte er irgendwelche trivialen Bestimmungen, umging Steuern oder Einfuhrzölle, und ich wusste aus Fernsehen und Internet, dass so ein Verhalten sympathisch, ja, wenn man es ins rechte Licht rückte, sogar heroisch sein konnte. Die Zeit des Spins hatte uns gelehrt: Wenn die Ordnung zusammenbricht, musst du sehen, wo du bleibst.
    Ich liebte meinen Vater. Jedenfalls redete ich mir das ein. Später erst kollidierte ich mit seiner Verachtung für ethische Normen, mit seinem pathologischen Bedürfnis über andere zu bestimmen.
    Der strömende Regen war eine gute Deckung. Das Lagerhaus meines Vaters war älter als der Spin, es stammte aus dem 20. Jahrhundert, ein Ziegelsteinbau mit kleinen, hoch gelegenen Fenstern aus grünem Bleiglas. Die Vorderfront blickte auf diese trostlose Straße, während die eigentliche Arbeit hinten stattfand, wo die Verladerampen waren. Mein Vater hatte mich zweimal mitgenommen – gegen die Einwände meiner Mutter –, um mir einen zensierten Einblick zu verschaffen; vielleicht hoffte er, mich eines fernen Tages als Junior-Partner gewinnen zu können. Und vor nur zwei Tagen hatte ich diese Gegend auf eigene Faust ausgekundschaftet. Und einen Plan geschmiedet.
    Ein schmaler Durchgang zwischen zwei benachbarten Gebäuden führte zur Gasse hinter dem Lagerhaus. Vor langer Zeit hatte ein Bahngleis diese Lagerhäuser bedient. Der Schienenstrang war zugepflastert worden, doch der Asphalt war an mehreren Stellen aufgeplatzt und die Reflexe der Straßenlaternen spielten auf den nassen Gleisen. Durch das laute Prasseln des Regens hörte ich das Schwappen der brennbaren Flüssigkeit.
    Im vorigen Jahr hatte ich mich in ein Mädchen namens Latisha Philips verliebt – verliebt, so wie sich ein Siebzehnjähriger eben verliebt, tölpelhaft, rückhaltlos. Latisha war um einiges größer als ich und so bezaubernd hübsch, dass ich morgens mit der Angst aufwachte, sie könne kapieren, dass sie etwas Besseres verdient hatte als einen Turk Findley. Denn intelligent war sie auch. Wären die Stipendienprogramme nicht im Zuge der Post-Spin-Sparauflagen zusammengestrichen worden, hätte sie sich bestimmt für ein Ivy-League-College qualifiziert. Sie wollte Meeresbiologin werden. Sie wollte die Versauerung der Ozeane verhindern und nahm an lokalen Protesten gegen das Versprühen von Schwefelaerosolen teil.
    Ihre Familie war weder besonders reich noch arm. Sie wohnten außerhalb der geschlossenen Wohnanlage, in der wir ein Haus hatten. Ich glaube, sie wohnten zur Miete. Ich sagte meinen Eltern nichts von Latisha, weil ich wusste, mein Vater würde gegen sie sein. Es hatte ärmliche Findleys in Texas und Louisiana gegeben, als diese Staaten noch nicht zur USA gehört hatten, und von dort hatte mein Vater einen ekelhaften Rassismus geerbt, den er hinter höflichen Umgangsformen zu verbergen wusste. Istanbul war ihm in dieser Hinsicht besonders schwergefallen, aber auch in Houston gab es jede Menge, über das sich herziehen ließ. War er zu Hause, fiel all die gespielte Toleranz von ihm ab; die Menschheit werde bastardisiert, tönte er, und er wusste genau, wer daran schuld war. Keine Ahnung, ob meine Mutter diese Ansichten teilte. Wenn ja, so redete sie zumindest nie darüber; wir hatten eine gewisse Routine entwickelt, seine Tiraden zu ignorieren, selbst wenn wir ihnen »zuhörten«.
    Sein Rassismus war bösartig, aber – so dachte ich – im Grunde ein zahnloser Tiger. Trotzdem

Weitere Kostenlose Bücher