Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
Vom Netzwerk:
Wahrheit.
    »In der Führungsklasse wurde über Sie gesprochen, Mr. Findley«, sagte er schließlich. »Einige von uns haben Fragen aufgeworfen. Als Sie sich der Operation unterwarfen, sind diese Stimmen verstummt. Jetzt, da uns nur noch Stunden vom entscheidenden Moment trennen, werden sie wieder laut. Aber inzwischen empfinde ich wie ein Freund für Sie.« (Er glaubte, was er sagte.) »Und als Ihr Freund war es mir eine Freude zuzusehen, wie Sie sich mehr und mehr an Vox orientiert haben. Sie sind fast am Ziel. Es ist zum Greifen nahe. Aber Sie zögern, beinahe so, als hätten Sie Angst vor uns.« Er schob sein Kinn nach vorne. »Haben Sie Angst vor uns?«
    Die Wahrheit. »Ja.«
    »Vox ist nicht nur ein Gemeinwesen. Vox ist eine Seinsweise. Fühlen Sie das?«
    Er unterschied zwischen Verstehen und Fühlen , zwischen der Tatsache und meiner Erfahrung der Tatsache. »Ja, ich kann es fühlen.« Auch das stimmte. Ich fühlte es, weil in meinem Kopf etwas geschah. Die Ärzte hatten mir das erklärt. Es gibt eine Hirnregion namens »medialer präfrontaler Kortex«, die streng genommen nicht zum limbischen System gehört – diese Region reguliert das moralische Urteilsvermögen und wird als Letzte vom Netzknoten infiltriert und manipuliert. »Es fühlt sich an wie … wie wenn man in einer Winternacht auf der Veranda steht. Drinnen im Haus sind Menschen, sie gehören gewissermaßen zur Familie …«
    Das gefiel Oscar. Er strahlte und lächelte.
    »Aber man wird den Gedanken nicht los, dass, wenn man durch die Tür ins Haus geht, man nicht willkommen ist. Weil sie einen bis aufs Mark durchschauen.«
    »Und was sehen diese Menschen?«
    »Wie anders ich bin. Wie fremd. Wie hässlich. Wie abscheulich.«
    »Sie kommen aus einer anderen Zeit, Mr. Findley. Daran ist nichts Ungewöhnliches.«
    »Sie irren sich, Oscar.«
    »So? Das können Sie erst beurteilen, wenn Sie sich zu erkennen geben.«
    »Und wenn ich nicht erkannt sein will?«
    »Was immer Sie uns verheimlichen, ich verspreche Ihnen, es wird uns nichts ausmachen.«
    »Ich will damit sagen, Oscar, dass ich eine Schuld auf mich geladen habe.«
    »Niemand ist ohne Schuld.«
    »Ich bin ein Mörder«, sagte ich.
    Und auch das stimmte.
    Der brennende Mann in seiner Aura aus blauem Feuer.
    Ich habe ihn getötet, weil ich wütend war; weil ich gedemütigt war; vielleicht auch nur weil unmittelbar nach einer rekordverdächtigen Hitzewelle ein Unwetter durch Houston getobt war. Aber vielleicht ist es auch zwecklos, nach einem Grund zu suchen.
    In der Dunkelheit, während öliger Regen von den Dächern strömte und in rasendem Tempo durch die Gosse schoss, ging ich durch eine verwaiste Seitenstraße, in der Hand eine Plastiktasche mit einem Kanister Methanol, in der Jacke eine in Plastikfolie gewickelte Schachtel Streichhölzer und zur Sicherheit ein angeblich wasserdichtes Butanfeuerzeug.
    Ich war achtzehn, wohnte noch bei meinen Eltern am Stadtrand von Houston und war mit dem Bus gekommen. Ich war dreimal umgestiegen; im letzten Bus saßen nur noch ein paar verdrossen aussehende Nachtarbeiter, und ich konnte nur hoffen, dass sie mich für einen weiteren durchnässten und schlecht gelaunten armen Teufel hielten. Der Bus kurvte durch einen Industriepark, der so aussah, wie ich mir einen Gefängnishof vorstellte. Ich stieg als Einziger aus und blieb einen Moment lang an der Haltestelle stehen. Der Bus dröhnte um die Ecke und hinterließ dunkle Dieselschwaden, dann lag die Straße verlassen da. Das Lagerhaus, in dem mein Vater seine kriminellen Geschäfte abwickelte, war ein paar Blocks weiter.
    Ich wusste nicht viel über seine Machenschaften, außer dass meine Eltern seit Menschengedenken darüber stritten. Ich hatte sechs Jahre meiner Kindheit in Istanbul verbracht (weshalb meine Freunde mich Turk nannten). In Istanbul wie in Houston wohnten wir in einer ziemlich guten Gegend, während mein Vater in weniger erfreulichen Vierteln arbeitete. Meine Mutter war von Hause aus Louisiana-Baptistin und hatte sich nie an die Moscheen und Burkas gewöhnen können, auch wenn Istanbul eine Weltstadt war und wir in einem westlich orientierten Bezirk lebten. Eine Zeit lang hielt ich das für den Grund für die häufigen Streitereien, doch sie fanden auch kein Ende, als wir wieder in die Staaten zogen. Obwohl sie sich bemühten, alles »Böse« von mir fernzuhalten, begriff ich schließlich, dass es nicht die exotischen Arbeitszeiten oder die Auslandsaufenthalte meines Vaters waren, die meine

Weitere Kostenlose Bücher