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Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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Gewaltausbrüchen in Vox-Core: Eine Frau hatte sich aus dem Fenster einer Wohnstufe gestürzt; ein Mann hatte seine kleine Tochter mit dem Küchenmesser erstochen. Wellen emotionaler Konflikte griffen so schnell um sich, dass es dem Coryphaeus kaum noch gelang, sie zu identifizieren und zu glätten. Und dann war da noch etwas anderes. Allison rüttelte mich wach. »Das musst du dir ansehen«, sagte sie.
    Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Es waren aktuelle Luftaufnahmen der Drohnen. Zu Beginn der Sequenz krochen die Maschinen der Hypothetischen durch ein trockenes Gletschertal auf die Ross-Meer-Küste zu. Sie waren uns wieder ein Stück näher gekommen. Der Blickwinkel änderte sich unmerklich, während die Drohne immer wieder über die Gefahrengrenze hinauskreiste. Was an den Aufnahmen sollte so ungewöhnlich sein? Dann passierte es. Urplötzlich begannen die hypothetischen Strukturen ihre Form zu verlieren und sich aufzulösen, und mit einem Mal gab es da, wo eben noch die Maschinen gewesen waren, nur noch einen dichten grauen Nebel. Die Kamera zoomte heran, bis der Nebel den ganzen Schirm ausfüllte – jetzt kein Nebel mehr, sondern ein körniger Schwarm aus kleinen Objekten. Ich nutzte meine neuen Fähigkeiten und legte ein metrisches Netz über das Bild. Es zeigte sich, dass die Objekte alle gleich groß waren; die längste Ausdehnung lag bei wenig mehr als einem Zentimeter.
    Was nur bestätigte, was ich bereits wusste: Es handelte sich um die gleichen kristallinen Schmetterlinge, die im Wilkes-Becken über uns hergefallen waren – nur dass es hier und jetzt viel, viel mehr waren. Die Maschinen mussten ihre gesamte Masse in diese Winzlinge umgewandelt haben.
    Der Schwarm bewegte sich wie eine Pfeilspitze in Richtung Küste.
    »Sie kommen«, sagte Allison. Und ihr Blick sagte: Wir dürfen nicht mehr warten!
    2.
    Allison hatte eine Route ausgearbeitet, die dicht bewohnte Viertel mied, und sie verließ die Wohnung, bevor die Korridorbeleuchtung in vollem Tageslicht erstrahlte. Ich sollte einige Minuten später folgen und einen gewissen Abstand zu ihr einhalten, um jeden Verdacht, den der Coryphaeus womöglich geschöpft hatte, im Keim zu ersticken.
    Doch kaum war Allison fort, schlug die Tür Alarm. Ich öffnete, und draußen stand ein nervös lächelnder Oscar. »Kann ich hereinkommen?« Hätte ich Nein sagen sollen?
    Damals auf der Erde – der Erde, auf der ich aufgewachsen war – hatte ich von Fischen gehört, die unter Wasser leuchteten: Bioluminiszenz nannte man das. Daran erinnerte mich Oscars Gesicht, so wie es mir meine erweiterte Wahrnehmung zeigte: ein sanftes euphorisches Glühen, gestört durch Blitze von Müdigkeit und unterdrücktem Zweifel und, ganz zuunterst, einem indigoblau pulsierenden Verdacht.
    Für seine Wahrnehmung war ich natürlich mindestens so transparent. Wir lasen Stimmungen, Verfassungen, Befindlichkeiten – keine Gedanken, aber er konnte mich trotzdem bei einer Lüge ertappen. Ich konnte nur hoffen, dass ein emotionaler Aufruhr, den ich nicht verbergen konnte, wie eine natürliche Reaktion auf die allgegenwärtige Krise aussah.
    »Ist Treya hier?«
    »Nein. Ich weiß nicht, wann sie zurückkommt.«
    »Schade. Ich wollte eine Einladung aussprechen – für Sie beide. Bitte kommen Sie zu uns, Mr. Findley. Kommen Sie und bringen Sie Treya mit. Meine Familie ist auch anwesend.« Er strahlte eine helle, aber diffuse Offenheit aus, so wie ein Holzofen sein Infrarot abstrahlt. »Fünfhundert Jahre Geschichte erreichen ihren Höhepunkt. Sie sollten nicht allein sein, wenn es so weit ist.«
    »Das ist nett von Ihnen, Oscar – aber nein, danke.«
    Er sah mich durchdringend an. »Zu schade, dass Sie sich nicht eher entschließen konnten, dem Netzwerk beizutreten. Sie sind schon sehr weit, aber Sie begreifen noch nicht, welches Glück Sie haben, welches Glück wir alle haben, dass wir diesen historischen Moment erleben dürfen.«
    »Doch, ich begreife es«, sagte ich. »Und ich weiß Ihr Angebot zu schätzen. Aber ich möchte diesem Moment lieber allein ins Auge sehen.«
    Das war eine Lüge. Schlimmer noch, es war ein Fehler: Er wusste , dass es gelogen war. Er sagte: »Können wir reden, nur kurz?«
    Also bat ich ihn Platz zu nehmen. Während er noch seine Gedanken ordnete, wurde mir bewusst, dass ich ihm (oder dem Coryphaeus) keine ausgemachte Unwahrheit auftischen konnte; es zu versuchen, war pure Dummheit gewesen. Am besten, ich sagte die reine – allerdings unvollständige –

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