Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
Vertrauen, Sänger«, flüsterte Eisfeuer gequält, »oder du nimmst meine Decke und verstößt mich aus dem Clan.«
Doch Roter Feuersteins Lippen zuckten nur. Die harte Kälte in Eisfeuers Augen hatte ihn zum Verstummen gebracht.
KAPITEL 61
Rabenjäger kämpfte sich den Hang hinauf. In seinem Magen machte sich der Hunger schmerzhaft bemerkbar. Oben angekommen, schaute er niedergeschlagen auf das verlassene Tal. Nicht einmal der Dampf aus Reihers Geysir verschleierte die Öde des Lagers. Von seinem Aussichtspunkt aus sah er die abgetretenen Kreise im Grasland, wo einstmals die Zelte gestanden hatten.
Er seufzte tief und rückte das schwere Fell auf der Schulter zurecht. Zurück über die Ebene blickend, die er durchquert hatte, aß er die letzten Beeren seines Vorrats. Seine Beine zitterten vor Schwäche.
Tiefhängende schwarze Wolken entluden ihre Schneelast. Windfraus frostiger Atem trieb die Flocken vor sich her. Ein dünner brauner Strich im Osten markierte den Großen Fluß. Wo waren sie hingegangen? Der Durchgang durch das Große Eis! Sie mußten nach Süden gegangen sein. Bestimmt waren sie seinem närrischen Bruder gefolgt.
Brennende Wut packte ihn. Der im Licht läuft führte das Volk durch das Eis. Das würde ihm zur Ehre gereichen und seinen Status in den Augen der Leute heben. Rabenjäger kniff die Augen zusammen, um sie vor dem kalten Wind zu schützen. Er blickte nach Süden, wo die weiße Eismasse sich hinter Dunst und tiefen Wolken verbarg. Es schmerzte ihn zutiefst, daß er die Gelegenheit verpaßt hatte, die Leute unter dem Schutz des Weißen Fells zu führen. Energisch verdrängte er diesen Gedanken. Die Macht des Fells würde ihn unter dem Eis beschützen und auf der anderen Seite des Eises die Autorität von Der im Licht läuft untergraben.
Er schielte auf das Fell, das er über die Schulter geworfen hatte. Liebevoll strich er darüber. Das Leder war ausnehmend sorgfältig gegerbt. So weich. Wer immer diese Arbeit ausgeführt hatte, er war ein Meister seines Fachs. Sogar in den Fingerspitzen seiner steifgefrorenen Hände fühlte er die von diesem Fell ausgehende Macht.
»Mit dir«, versprach er dem Fell, »werde ich der bedeutendste Mann meines Volkes werden. Niemand wird mehr Frauen besitzen als Rabenjäger. Niemand wird stärker sein. Niemand wird es wagen, mir zu widersprechen. Und das alles verdanke ich dir und noch viel mehr.«
Der Wind nahm zu. Mühsam erhob er sich. Sein Magen rebellierte gegen die Beeren und gluckerte laut. Von einem Felsen streifte Rabenjäger eine Handvoll Schnee, kaute und schluckte die kalte Masse. Er schauderte, als ihm der Schnee durch die Kehle floß und seinen vom Hunger geschwächten Magen auskühlte.
Stöhnend hob er das schwere Fell auf. Ob ein Mann weniger wog als dieses Fell? Er ging in Richtung auf den Fluß. Seine Oberschenkel und Wadenmuskeln waren verkrampft und schmerzten unerträglich.
Das Gewicht des Fells saugte ihm noch das Mark aus den Knochen. Hätte das viermal verfluchte Mammutvolk sich kein leichteres Totem auswählen können? Er wandte den Kopf, als er an Krähenrufers Skelett vorbeikam. Die verstreut zwischen den Felsen liegenden Knochen waren halb vom Schnee bedeckt. Der Schädel lag neben dem Pfad. Die leeren Augenhöhlen leuchteten unheimlich. Gefrorener Schnee hatte sich darin angesammelt und reflektierte das trübe Licht. In der Nasengegend lagen Larvenpuppen. Ein Teil des Skalps war vertrocknet und löste sich langsam vom Schädeldach. Das von grauen Strähnen durchzogene Haar wehte im Wind.
Rabenjäger fröstelte. Die leeren Augenhöhlen zogen seinen Blick magisch an. Ganz dunkel erinnerte er sich an ein trockenes Lachen: Krähenrufers Lachen, peinigend, höhnisch.
Er stolperte weiter.
Teilweise waren die Spuren der Leute bereits verweht, aber so viele Menschen hinterließen trotzdem eine Fährte, der selbst ein Blinder hätte folgen können. Rabenjäger kicherte. Gleich darauf japste er nach Luft. Bildete er sich das nur ein oder wurde das Fell mit jedem Schritt tatsächlich schwerer? In den ersten Tagen nach Verlassen von Eisfeuers Lager genügten ihm täglich drei bis vier kurze Ruhepausen, jetzt schaffte er gerade noch eine Stunde, bevor er erschöpft in den Schnee sank. Seine Lungen stachen, der Magen knurrte erbärmlich. Seine Kraftreserven hatte er längst verbraucht. Er fühlte nur noch Hunger und Durst.
»Aber mir gehört die Macht«, rief er sich in Erinnerung. Ein neuer Energiestrom beflügelte ihn, als er das
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