Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
Narren«, sagte sie und nagte an den Resten des Wolfsknochens, den sie noch immer in einem Beutel mit sich herumschleppte. »Was ist los mit euch? Ihr glaubt, er sei ein Kind? Schaut euch doch einmal an! Was seid denn ihr?« Sie streckte ihren knochigen Arm aus dem Fellärmel ihres Mantels und zeigte auf jeden von ihnen. Ihre tief in den Höhlen liegenden Augen musterten sie durchdringend.
»Eure Mägen schnurren ein bißchen zusammen, und schon habt ihr nichts Besseres zu tun, als eure Köpfe verzweifelt in den Schnee zu stecken.«
»Aber Großmutter«, sagte Hüpfender Hase. Er gab sich keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen.
»Wir verhungern.«
»Pah! Ihr seid das Geschenk des Wolfes gar nicht wert. Verschwindet! Haut ab!« Laut schmatzend machte sie sich über den Knochen her und lugte zwischen den vom Wind zerzausten grauen Haaren hindurch.
Hüpfender Hase schloß die Augen. Selbst in dieser verzweifelten Lage wollte er einen älteren Menschen nicht offen tadeln. »Wir müssen zurück, Großmutter. Wir wollen überleben.«
»Ich glaube, bei all dem vergessen wir, daß diese Lange Finsternis anders ist als früher«, gab Grünes Wasser zu bedenken. »Es ist die schlimmste, an die ich mich erinnern kann. Die Anderen leben im Norden und Westen. Dorthin können wir nicht zurück. Wir befinden uns hier in einem neuen Land, in dem wenigstens die Gipfel schneefrei sind. Anscheinend hat der Wind den Schnee dort weggeblasen.
Auf den Hochebenen im Norden müßten wir den ganzen Weg auf Schneeschuhen zurücklegen.«
»Aber wir würden früher oder später auf ein Lager unseres Volkes stoßen«, behauptete Hüpfender Hase.
»Ich bezweifle, ob diese Sippe genügend für uns zu essen hätte.« Grünes Wasser zog eine Augenbraue hoch. »Wir würden genauso verhungern.«
»Überleben«, brummte Singender Wolf. »Wir sitzen hier herum und versuchen, einen Ausweg zu finden. Schließlich wollen wir alle überleben. Und wo ist unser großartiger Träumer}« Er deutete nach draußen. »Er läuft davon, weil er nicht wagt, uns gegenüberzutreten.«
Unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Nur noch das Prasseln des Feuers und Gebrochener Zweigs Schmatzen unterbrachen die Stille.
»Er versucht, die Tiere zu rufen«, sagte schließlich Grünes Wasser.
»Ha! Ihn hat doch nur der Hunger verrückt gemacht. Wer die Tiere rufen will, muß magische Kräfte besitzen. Und welche Tiere will er hier denn rufen?«
»Vielleicht ein paar Mäuse oder …«
»Heute ist er gestolpert und gestürzt. Das habe ich genau gesehen. Er hat jegliche Macht verloren! Er führt uns alle in den Tod!«
Der der schreit schnaubte. »Ich glaube nicht…«
»Vielleicht haben ihm die Geister der Langen Finsternis bereits die Seele geraubt und halten sie draußen in der Dunkelheit fest, um sich an ihr zu kräftigen, damit sie auch die unsrigen holen können.«
»Du …« Gebrochener Zweig flüsterte nur, doch ihre alten Augen funkelten gespenstisch im flackernden Licht. Die Wut und die Feindseligkeit auf ihrem runzligen Gesicht erschreckte sie alle.
»Was hast du jemals für dein Volk getan? Wie? Nichts. Du beklagst dich nur und unternimmst nichts.
Du wartest darauf, daß andere eine Entscheidung treffen, und dann stolzierst du herum und meckerst und gibst den verantwortungsbewußten Männern und Frauen die Schuld an allem, was passiert. Du bist schlimmer als die Geister der Langen Finsternis. Mit deinem mißgünstigen Gewinsel raubst du uns allen die Seelen.«
Mit offenem Mund starrte Singender Wolf sie an. Dann sagte er wütend: »Du verrückte alte …«
»Wag ja nicht, mir freche Antworten zu geben, Junge. Sonst spieße ich dich mit diesem Knochen auf.«
Sie stieß mit dem Knochen nach ihm und schlug ihm damit auf den Fellkragen. Verblüfft über den unerwarteten Angriff wehrte er sie rücksichtslos ab und drohte ihr mit den Fäusten.
»Du verrückter alter Brachvogel von einem Weib! Verrückt! Wie dieser verfluchte Der im Licht läuft.«
Den Knochen auf ihn gerichtet, machte sich Gebrochener Zweig unverdrossen an ihn heran. Wieder schlug sie nach ihm. »Ich will dir etwas sagen, Junge. Du hast nie versucht, herauszufinden, was für ein Mensch du wirklich bist und was du kannst. Du hast dich immer von Krähenrufer beeinflussen lassen. Zumindest bis er sich weigerte, für dein kleines Mädchen dort draußen im Schnee zu singen.«
»Ich weiß nicht, was du …«
»Da hat sich bei dir einiges verändert.« Sie klopfte ihm mit dem Knochen auf
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