Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
seine Macht verloren hat. Wer weiß, wo er uns hinführt?«
»Er ist ein Narr«, erwiderte Tanzende Füchsin. »Und am schlimmsten ist, daß er die Menschen umbringt, die ihm vertrauen nur um sein Gesicht zu wahren.«
»Genau«, keuchte Kralle. Weiße Atemwolken dampften über ihrem Kopf. »Er bringt auch mich um.
Ich bin müde, Mädchen. Müde und durchgefroren. Ich spüre die Kälte in jedem Knochen. Sobald ich mich nicht bewege, zittere ich am ganzen Leib. In meinem Körper steckt kein Fünkchen Feuer mehr.
Kein Feuer, Mädchen.«
»Du schaffst es«, beteuerte Tanzende Füchsin. »Komm, stütz dich auf mich.«
Kopfschüttelnd blieb die alte Frau stehen. »Ich bin todmüde. Verstehst du? Ich habe die Grenze bereits überschritten.«
Erschrocken blieb Tanzende Füchsin stehen. »Nimm meine Hand. Wenn du zurückbleibst, stirbst du.
Du schaffst es nicht allein.«
Kralle schluckte trocken. »Deine Hand nehmen? Damit meine Seele zusammen mit deiner begraben wird?«
Tanzende Füchsin zog die Hand zurück und senkte die Augen. »Ich wollte dir nur helfen, sonst nichts.«
»Ich habe es nicht so gemeint, Mädchen. Seine Flüche kümmern mich nicht mehr. Er hat keine Macht mehr über mich. Dir und mir kann er nichts mehr tun.«
Sie sahen einander tief in die Augen. Jede blickte in die Seele der anderen.
»Tut mir leid, daß ich dich verachtet habe«, flüsterte Kralle beschämt. »Ich habe mir Sorgen gemacht wegen der Leute. Ständig machte ich mir Sorgen, was sie wohl über mich denken. Und nun?« Sie machte eine drohende Gebärde. »Die ich geliebt habe, ließen mich allein. Und wer nimmt sich die Zeit, mir neuen Mut zu geben? Die Frau, die dieser Idiot Krähenrufer verflucht hat.«
»Komm weiter.« Lächelnd legte Tanzende Füchsin den Arm um die knochigen Schulter der alten Frau. »Wir dürfen nicht zurückfallen. Rabenjäger bringt mir heute abend etwas zu essen. Ich teile es mit dir. Versuche, zu mir zu kommen, ja?«
»Krähenrufer strengt sich an, uns beide unter die Erde zu bringen.« Leise fügte sie hinzu: »Falls er dazu lange genug lebt.«
»Falls …«, flüsterte Tanzende Füchsin. Selbst der völligen Erschöpfung nahe, half sie der alten Frau weiter. Auch ihre Beine fühlten sich bleischwer und eiskalt an. Sie wußte, daß sie nicht mehr lange durchhalten konnte.
»Glaub mir«, brummte Kralle. »Alle hassen ihn. Irgendwann wird sich jemand dazu aufraffen, ihn zu töten.«
Im stillen hoffte Tanzende Füchsin, die alte Frau möge recht behalten.
Die Menschen nahmen die Schneeschuhe von den Rückentragen und befestigten sie an den Stiefeln.
Vorsichtig begannen sie die lange Wanderung hinaus in das offene Land. Scharfe Augen prüften den Schnee und hielten Ausschau nach Spuren von Karibus, Moschusochsen oder seltenen Elchen. In ihrer Nähe trottete ein Fuchs, immerhin nah genug, um ihn deutlich zu erkennen, aber dennoch unerreichbar fern. Irgendwann eilte er davon. Bei Einbruch der Nacht gruben sie schützende Höhlen in die vereisten Schneewehen.
Der im Licht läuft kaute einen dünnen Streifen rohen Fleisches. So wenig. Ein einziges gutes Mahl.
Aber genug, um sie am Leben zu erhalten. Wo waren die Mammutherden? Wenigstens ein paar dieser mächtigen Tiere mit den gewaltigen Stoßzähnen mußten doch den Winter überstanden haben. Wo waren die Karibus?
Sein Traum war so lebendig gewesen.
Zögernd ließ er den Blick über die Hügel und Berge schweifen. In der dunklen Höhle schliefen die Kinder bereits unter den Felldecken, ihre Mütter rollten sich dicht neben ihnen zusammen. Die Männer lümmelten sich lässig gegen die kalten, rohen Eiswände. Keiner sah ihn an. Sie unterhielten sich, als ob er gar nicht existiere. Allein Gebrochener Zweig zeigte ihm ihr unerschütterliches Vertrauen. Sie kam gemächlich zu ihm heraus und half ihm später beim Aufschlagen seines Lagers.
»Haben sie mich ausgestoßen, Großmutter?« fragte er flüsternd.
Sie schnaubte geräuschvoll und legte ihm die Hand aufs Knie. »Wolfstraum, Junge. Er führt uns.«
»Bist du sicher?«
»Selbstverständlich. Der Wolf will sich nur vergewissern, ob wir uns seiner Hilfe auch würdig erweisen.«
Er neigte den Kopf. Sein langes schwarzes Haar fiel ihm über die Brust. Er zerrte an den Sehnenschnüren seiner Stiefel und fragte: »Was ist, wenn mir nur der Hunger einen Streich gespielt hat?«
»Hunger oder ein Schlag auf den Kopf, was spielt das schon für eine Rolle, solange der Traum kommt und eine Vision
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