Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
hierherzukommen.«
»Hat er auch.« Traurig starrte er zur Decke hinauf. Er sah sehr schuldbewußt aus. »Ich habe die Leute trotzdem hergeführt.«
»Eine weise Entscheidung.« Sie schüttelte ihr ergrauendes Haar. Sie war es nicht mehr gewohnt, mit einem Menschen zu sprechen. Ihre früher angenehme, wohlklingende Altstimme war im Laufe der Jahre rauh geworden.
Er stützte den Kopf in die Hände. Sein Anblick rührte ihr Herz. Eine schwere Bürde lastete auf ihm, das verrieten ihr seine ängstlichen Augen.
»Möchtest du mit mir darüber sprechen?«
Unbehaglich zuckte er die Achseln. »Ich … ich habe geträumt.
Wir begannen zu verhungern. Der Hunger verwirrt den Verstand eines Menschen.«
»Natürlich sieht ein hungriger Mensch seltsame Bilder, aber das ist etwas ganz anderes als ein Großer Traum.«
»Woher weißt du das?« fragte er. In seiner Stimme schwangen zugleich Angst und Hoffnung mit.
»Ich weiß es eben.«
Das Blut stieg ihm ins Gesicht. Unsicher zauste er sein langes Haar.
»Der Wolf rief mich … Ich meine …«
Reihers Herz schlug schneller. Sie beugte sich zu ihm hinüber und hob sein Kinn. »Sieh mir in die Augen, Junge. Erzähle mir, was der Wolf dir gesagt hat.«
Er schluckte. Sie spürte, wie seine Kiefer mahlten. »Ich hörte einen Wolf, der sich am Körper meiner Mutter zu schaffen machte. Ich … ich dachte eigentlich nur an sein Fleisch.« Nachdem er stockend angefangen hatte zu erzählen, sprudelte bald die ganze Geschichte wie eine Fontäne aus einem Geysir aus ihm heraus. Sie unterbrach ihn erst, als er von seinem Versuch berichtete, die Tiere zu rufen.
»Und als du versuchtest, die Tiere zu rufen, was ist da geschehen?«
Kopfschüttelnd hielt er die Hände über das wärmende Feuer. »Ich fühlte sie nicht, ich konnte es nicht.
Ich bin kein Träumer. Ich habe etwas Furchtbares getan. Ich habe meine Leute an das Ende der Welt geführt.«
»Dein Verstand hat dich gehemmt. Er ließ nicht zu, daß du die Tiere riefst. Hast du an andere Dinge gedacht? Warst du verzweifelt?«
Eingeschüchtert nickte er.
Reiher machte ein finsteres Gesicht. »Trotzdem behauptest du, bei deiner Konfrontation mit Krähenrufer die Macht des Wolfes gespürt zu haben.«
Er warf ihr einen bösen Blick zu. Ein Funken Widerstand regte sich in ihm. »Ja. Ich spürte seine Kraft.
Sie war da damals.«
»Ja«, meinte sie nachdenklich. »Das glaube ich dir gern. Aber warum ist sie jetzt nicht mehr da? Hat dich niemand gelehrt…«
»Ich weiß nicht, warum!« rief er. Er saß da wie ein Häufchen Elend.
»Wer ist heute der bedeutendste Träumer des Volkes?«
»Krähenrufer.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. Was war in all den langen Jahren ihrer Abwesenheit geschehen? »Ich hatte immer das Gefühl, irgend etwas stimmt nicht mit ihm. Er war kein wirklicher Träumer. Er machte stets nur halbe Sachen. Er veränderte seine Visionen nach eigenem Gutdünken und ließ sich niemals wirklich darauf ein. Zu einem Großen Traum gehört Freiheit Abgeschiedenheit.«
»Gebrochener Zweig sagte …«
»Gebrochener Zweig?« keuchte Reiher. »Lebt diese verräterische Hexe immer noch?«
Der Junge zuckte zusammen. »Jedenfalls bis vor kurzem, als ich sie zuletzt gesehen habe.«
Reiher gluckste und schlug sich auf die Schenkel. Doch plötzlich erinnerte sie sich all der unerfreulichen Dinge in der Vergangenheit und sagte hartherzig: »Ich glaube, ich sollte ihre Gelenke mit einem Fluch belegen.«
»Du kennst sie?«
Aus den Augenwinkeln schielte sie zu ihm hinüber. »Ja.«
»Ich hätte nie gedacht, daß noch irgend jemand auf der ganzen Welt lebt, der so alt ist wie sie. Sie muß ungefähr …«
»Da siehst du's. Man sollte nie die Hoffnung aufgeben. Sie wird nicht mehr lange unter uns weilen, wenn ich mich erst einmal mit ihr beschäftige.«
Er runzelte die Stirn. »Sie ist zur Zeit meine einzige Freundin. Sie glaubt an Träume und spricht viel darüber.«
»Tatsächlich? Früher behauptete sie, ich sei verrückt, wenn ich Träume hatte. Sie sagte dann, ich hätte böse Geister in den Eingeweiden.«
Ungläubig hielt Der im Licht läuft den Atem an. »Du hast Träume?«
»Ja.«
»Haßt du Gebrochener Zweig deshalb? Weil sie sich abfällig über deine Träume geäußert hat?«
Sie antwortete nicht gleich. Erinnerungen überwältigten sie. »Nein … nein. Früher einmal, vor langer Zeit, ging es um einen Mann. Einen großen Jäger. Er jagte Großvater Braunbär, dafür war er weithin bekannt. Er verspottete
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