Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes

Schlechteren.«
    Tanzende Füchsin zuckte zusammen. Eisige Kälte kroch ihr über den Rücken.

KAPITEL 16
    Fahle Sonnenstrahlen durchdrangen die enge Öffnung der Eishöhle und ließen die hohlen Wangen der Menschen noch eingefallener erscheinen. Eng aneinandergeschmiegt lagen die Leute unter den Decken. Sie sprachen kaum. Die Verzweiflung war mit Händen greifbar keiner hatte noch ein Fünkchen Hoffnung.
    »Großmutter?« fragte Roter Stern, ein fünf Jahre altes Mädchen mit großen braunen Augen und einem bis auf den Tod abgezehrten Gesichtchen. Sie mußte all ihre Kraft zusammennehmen, um die Kapuze von Gebrochener Zweigs Kopf zu ziehen.
    »Hmmm?«
    »Großmutter, mir ist so kalt.« Sie umklammerte die Puppe aus Fischgräten, als gäbe sie ihr noch Halt, und drückte sie fest an ihre Wange.
    Gebrochener Zweig versuchte, richtig wach zu werden. Sie rieb sich mit den Fäusten die Augen und blickte auf das bittende Kind. Roter Stern sah sie blinzelnd an. Eiskristalle schimmerten auf ihren Wimpern. Flehend streckte sie der alten Frau die Ärmchen entgegen.
    »Komm her, Kind«, murmelte Gebrochener Zweig liebevoll und zog die Kleine an sich. Sie zurrte die starren, gefrorenen Decken ganz fest um sich und das Kind. Zärtlich küßte sie seine Stirn.
    »Danke.« Müde seufzend lehnte sich das Mädchen an die Brust der alten Frau. Es zog einen Handschuh aus, steckte den Daumen in den Mund und lutschte heftig daran. »Ich habe Hunger.«
    »Ja. Aber es dauert nicht mehr lange. Der Wolfsträumer kehrt bald zurück. Er holt uns ab. Bestimmt spricht er gerade mit dem Wolf.«
    Ungläubig runzelte Roter Stern die Stirn. »Lügst du mich an, weil ich noch ein Kind bin?«
    »Nein, natürlich nicht«, widersprach Gebrochener Zweig etwas verletzt. »Er kommt zurück. Du wirst sehen.«
    »Vielleicht ist er tot und kann nicht mehr kommen.«
    »Wer hat denn das gesagt?«
    Verlegen schloß Roter Stern die Augen. Sie wollte nicht petzen. »Na ja …«
    »Komm schon. Wer außer mir weiß hier schon Bescheid?« versuchte Gebrochener Zweig das Mädchen zum Sprechen zu bringen.
    »Singender Wolf sagte, vielleicht hat ihn Großvater Eisbär gegessen, und wir alle sterben, weil wir ihm gefolgt sind.«
    Verächtlich schürzte Gebrochener Zweig die Lippen. »Ach weißt du, Singender Wolf ist ein Narr. Hör lieber auf mich. Ich lebe schon zweimal so lang wie er und kenne mich aus in der Welt. Wolfsträumer kommt zurück.«
    Roter Sterns Magen knurrte laut, und sie preßte ihre winzige Hand dagegen. »Er brummt und zieht sich zusammen.«
    »Vielleicht ist eines der Monsterkinder herabgestiegen und hineingekrochen, ha?«
    Roter Stern kicherte ungläubig. »Du weißt ganz genau, daß sie nie vom Himmel herabsteigen.«
    »Wirklich nicht?«
    Das Mädchen schüttelte den Kopf.
    »Nein. Darum brauchen wir auch keine Angst vor ihnen zu haben. Sie sind gefangen im Licht des Regenbogens, eingesperrt für alle Zeiten.«
    Lächelnd tätschelte Gebrochener Zweig ihr die Wangen. »Du erinnerst dich sehr gut an die alten Geschichten, das muß ich schon sagen.«
    »Du hast mir gesagt, ich darf sie nicht vergessen. Weißt du das nicht mehr?«
    »So? Tatsächlich?«
    »Ahha. Als ich noch ganz klein war, hast du gesagt, du versohlst mir den Hintern, wenn ich auch nur eine einzige vergesse.«
    »Das habe ich gut gemacht. Es hat funktioniert.«
    Roter Stern kuschelte ihre Wange an die Pelze der alten Frau und schien konzentriert nachzudenken.
    Gebrochener Zweig strich mit der behandschuhten Hand über die Falten auf der Kinderstirn.
    »Was ist denn das? Du willst wohl aussehen wie ich?«
    Zaghaft sahen sie die braunen Augen des Mädchens an. »Großmutter, wie ist der Tod?«
    Die Frage schnürte der alten Frau fast das Herz ab. Sie hustete und drückte das Kind fest an sich.
    Diese Frage hatte sie sich selbst schon oft genug gestellt. »Oh, er ist nicht so schlimm. Ausgenommen bei einigen ganz alten …«
    »Was ist, wenn ein Bär kommt und mich bei lebendigem Leib verschlingt?«
    Gebrochener Zweig zog ein Steinmesser aus ihrem Gürtel und drehte es so, daß die Obsidianklinge im düsteren Licht drohend aufblitzte. »Wenn ein Bär das wagt, schlitze ich ihm mit diesem Messer den Bauch auf und hole dich heraus.«
    »Aber was ist es wohl für ein Gefühl, wenn … wenn der Bär wegläuft und du mich nicht herausholen kannst?«
    »Na ja«, antwortete Gebrochener Zweig und betrachtete nachdenklich die unregelmäßigen Muster der kalten blauen Schatten auf der Decke.