Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
Süden ab, aber sie sah nur vergletscherte Hügel und Berge. »Großmutter, was hältst du von einem Spaziergang? Er wird wohl recht kurz werden, denn als ich sie aus den Augen verlor, ging sie schon sehr langsam.«
Kralle mummelte an ihrem Zahnfleisch. Ihre alten Augen prüften genau die Spuren. »Hier ist Blut.
Dunkles Blut. Aus der Leber. Du hast sie voll getroffen.«
»Du hast nichts verlernt.«
»Gar nichts, Kind.« Kralle gluckste vergnügt. »Nur meine Muskeln lassen zu wünschen übrig.«
Nebeneinander folgten sie der Fährte des verwundeten Tieres. Die Sonne stand bereits weit im Westen.
»Hier wurde sie langsamer«, erklärte Füchsin und deutete auf eine große Blutpfütze. Sie blickte auf und maß mit der Hand den Stand der Sonne am Horizont. Drei Handbreit links vom Licht? Das konnte knapp werden. Die Vorstellung, sie könnte den Elch an Wölfe verlieren, machte sie rasend.
»Sie ist nicht mehr weit gekommen«, fügte Kralle mit großem Nachdruck hinzu. »Sieh dir das an.
Schaum. Der ist aus ihrer Nase gelaufen. Sie ist tot, und wir stehen hier herum.«
»Zumindest liegt sie am Boden.«
»In diesem Fall ist sie so gut wie tot. Sie verblutet innerlich. Wir haben sie.«
Die Augen unverwandt auf die Spuren gerichtet, gingen sie weiter. Die Blutlachen wurden immer größer. Das Kalb folgte treu seiner verletzten Mutter.
»Du hast länger durchgehalten, als ich dachte.« Kralle beobachtete Tanzende Füchsin aus den Augenwinkeln.
Tanzende Füchsin wandte ihr das Gesicht zu und mußte, geblendet von der Sonne, blinzeln. »Und ich halte noch länger durch.«
»Ein wenig überrascht mich das schon. Ich hätte nie erwartet, daß du so kräftig bist. Ich dachte, in spätestens einer Woche läufst du zur Sippe zurück.«
»Warum hast du mich dann begleitet?«
Kralle schnitt eine Grimasse. »Das weiß ich auch nicht. Vermutlich wollte ich einfach wissen, ob du es schaffst. Ist lange her, daß eine Frau das Volk verlassen und ihr Leben in die eigenen Hände genommen hat. Männer zogen hin und wieder allein hinaus. Aber eine Frau? Reiher war die letzte, und seitdem sind mehr als zwanzig Lange Helligkeiten vergangen.«
Füchsin nickte bedeutsam und wünschte sich, Reihers vielgepriesene Gabe zu Träumen zu besitzen, weil sie dann hätte prüfen können, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ihr Leben würde von nun an schwerer werden. »Ich konnte nicht bleiben«, sagte sie schlicht.
»Du magst Rabenjäger nicht. Das stimmt doch, oder?«
Sie wollte den Kopf schütteln, überlegte es sich aber anders und antwortete: »Ich … Um ganz ehrlich zu sein, ich weiß es selber nicht. Ich hasse ihn nicht wirklich.« Sie lachte kurz und spöttisch auf.
»Kannst du dir das vorstellen? Er brachte mich mit Gewalt zu Krähenrufer zurück, obwohl er genau wußte, welche Demütigung mich erwartete. Bevor du dich mit mir zusammengetan hast, kam er fast jede Nacht unter meine Decken. Und ich … ich weiß noch nicht einmal, was ich von ihm halte.«
»Bist du deshalb hier draußen?«
Lächelnd nickte sie. »Und zum erstenmal in meinem Leben bin ich frei, Großmutter.«
»Wenn du zurückgehst, ist es damit aus und vorbei.«
Tanzende Füchsin zuckte die Achseln. »Bestimmt kommt Der im Licht läuft zur Erneuerung.«
»Sofern er noch lebt.«
Sie biß sich auf die Lippen. Eine gähnende Leere breitete sich in ihr aus. »Ja, wenn er noch lebt.«
»Du gehst also hin. Möchtest du ihn heiraten?«
»Ich weiß nicht, ob er mich noch will.«
»Das wirst du schon merken. Aber vergiß nicht, Rabenjäger wird auch dort sein. Und Krähenrufer.«
Kralle machte ein finsteres Gesicht. »Warum lebt ausgerechnet dieser alte Halunke noch? So viele gute Menschen sind erfroren, und verhungert.«
Tanzende Füchsin schüttelte den Kopf. »Das ist Pech.«
Kralle schielte von der Seite zu ihr hinüber. »Niemand kann dir etwas anhaben. Eine Frau hat das Recht, ihren Mann zu verlassen, wenn er sie schändlich mißbraucht. Und Krähenrufer hat dich mißbraucht und beleidigt. Inzwischen weiß das jeder. Es hat sich herumgesprochen.«
In einer hilflosen Geste hob Tanzende Füchsin die Hände. Die Abendkälte durchdrang ihren Mantel.
Sie fröstelte. Inzwischen warf das Licht der untergehenden Sonne lange schwarze Schatten über die Tundra und ließ die jungen Triebe der Riedgräser und des Wermuts silbrig glitzern.
»Glaubst du, ich habe die richtige Wahl getroffen?«
Kralle seufzte. »Mich darfst du nicht fragen, Kind.
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