Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
Ich sah es deutlich, als du die Karibus mit einem Traum gerufen hast. Dir geht es wie mir. Die magische Macht verhöhnt dich, sie bringt deinen Verstand durcheinander, zwingt dich, das in dir verborgene Licht zu erkennen.
Die Angst legte sich ihm wie eine Schlinge um die Brust und schnürte ihm die Luft ab. «Mich interessiert die magische Macht nicht. Diese Macht ist für jemand anderen bestimmt, der …«
»Für wen?«
»Jemand, der ihrer würdig ist.«
Sie kicherte leise und schüttelte den grauhaarigen Kopf. »Du beugst dich also der Feigheit, wie?«
Stocksteif richtete er sich auf. »Ich beuge mich der Vernunft. Ich habe mich selbst zum Narren gehalten.«
»Dir gefällt das Gefühl, das sich während eines Traumes einstellt, nicht wahr?«
»Natürlich«, gab er unumwunden zu. Dieses Gefühl tröstete und beruhigte ihn wie ein wärmendes Feuer in einer kalten Winternacht.
»Aber es gefällt dir wiederum auch nicht so gut, daß du bereit bist, dafür deine Seele aufzugeben. Du möchtest dich lieber nur oberflächlich damit befassen. Wie ein Kind, das mit dem Feuer spielt, hoffst du, niemals dein kostbares Selbst riskieren zu müssen, um die Geheimnisse der Flammen zu ergründen.«
»Ich bin Der im Licht läuft, der Bastard eines Mannes der Anderen«, schimpfte er erbost. »Ich bin nicht…«
»Na und?« Sie warf ihm einen schiefen Blick zu und zog die Augenbrauen hoch.
Furcht und eine unendliche Sehnsucht nach seinem früheren Leben ergriffen Besitz von ihm. Ein stummer Schrei stieg in seiner Kehle auf, ein Flehen nach der Sicherheit und Gewißheit, die er vor seinem Traum empfunden hatte. Oh natürlich, er hatte ständig Hunger gelitten, aber seine Seele hatte aus einem Stück bestanden. Seelische Qual war ihm fremd gewesen. Inzwischen hatte er das Gefühl, aus lauter Bruchstücken zu bestehen wie eine tausendfach zersplitterte Speerspitze.
»Ich gehöre einfach nicht mehr zu meinem Volk. Ich bin seiner unwürdig!«
»Warum?«
»Ich passe nicht mehr dazu.«
»Niemand gehört voll und ganz dazu. Jeder ist auf seine Art ein Außenseiter. Das ist ein Teil des Fluches, der auf menschlichen Wesen lastet.«
»Ich gehörte zu ihnen bis der Wolf mich rief.«
»Und warum, glaubst du, hat sich dadurch etwas geändert?«
Unruhig scharrte er mit den Füßen. »Ich bin ein anderer geworden.«
»Ja, natürlich.«
Er spürte einen Kloß im Hals und konnte kaum sprechen. Aufgeregt bemühte er sich, sein wahres Selbst wiederzufinden, doch es blieb verborgen im Unterbewußten. »Warum ich?«
»Weil du die Seele der Welt berührt hast. Du sahst die Monsterkinder kämpfen, hörtest, das donnernde Schweigen ihrer klirrenden Waffen und sahst das Spiegelbild der leuchtendhellen Dunkelheit deiner eigenen Seele in ihren Augen.«
»Worte«, brummte er, aber die Wahrheit hämmerte warnenden Trommeln gleich in seinem Innern.
»Nichts als Worte.«
»Ja, du hast dich verändert. Der im Licht läuft starb, als der Wolf ihn rief.«
Reglos starrte er über die im Sonnenlicht schimmernden Felsen hinaus auf das wilde Land. Er holte tief Luft und hielt lange den Atem an. Ich bin halb tot, sie hat recht. Warum kann ich nicht so leben, wie ich will? Wo ist Tanzende Füchsin ? Was ist mit mir geschehen? Alles, was ich will, ist die Frau, die ich liebe, ein sicheres Lager und zusehen, wie meine Kinder aufwachsen. Ist das so schlimm f Ist das zuviel verlangt?
Reiher hinkte um ihn herum und baute sich vor ihm auf. Um ihn wieder auf sich aufmerksam zu machen, griff sie nach einer seiner langen, im Wind flatternden Haarsträhnen und zog kräftig daran. »Merkst du nicht, was du tust?«
»Nein.«
»Du suchst verzweifelt nach den Lebensfäden, die den toten Der im Licht läuft wieder zusammenfügen könnten. Du solltest ihn vergessen.«
»Ich kann ihn nicht vergessen!« rief er zornig. »Er ist ich! Sonst bin ich nichts. Ich bin …«
»Pah! Führ dich nicht auf wie ein Narr. Wäre er deine ganze Persönlichkeit, hättest du nie den Wolf rufen hören.«
Er hatte das Gefühl, jeden Augenblick zu explodieren. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»So? Das weißt du nicht?« Ihr rauhe alte Stimme klang nicht mehr freundlich und tröstend. »Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Zerrissen zwischen dieser Welt und der Welt des Träumers. Auch ich stand einmal zwischen zwei Welten. Zum Glück hatte ich Gebrochener Zweig. Sie nahm mir die Entscheidung ab. Jahre vergingen, bis ich gelernt hatte, die Türen meiner Seele zu öffnen.
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