Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
Dir bringe ich es bei. Mit meiner Hilfe lernst du es in einem Zehntel der Zeit.«
»Du brauchst mir gar nichts beizubringen.«
Ein verständnisvolles, mitfühlendes Lächeln umspielte ihren Mund. »Willst du dein Leben lang ein Dilettant bleiben, ha?«
»Vielleicht.«
»Ich warne dich. In diesem Fall endest du wie Krähenrufer, ausgebrannt, unfähig, dich dieser Macht zu überlassen, verloren zwischen Wahrheit und Lüge.«
»Das ist mir gleichgültig!« rief er heiser und kehrte ihr den Rücken zu. »Es ist allein meine Entscheidung.«
»Deine Einwände lasse ich nicht gelten.«
Ihre Schritte entfernten sich. Sie ging den Abhang hinunter zu den heißen Quellen. Seine Kehle war wie zugeschnürt, sein Herz hämmerte. Er schaute über das Land und sah sein Volk in der Ferne verschwinden. Die Leute verkleinerten sich zu winzigen, sich bewegenden Punkten auf der lichtüberfluteten Hochebene. Unaufhaltsam bahnten sie sich ihren Weg zwischen vergletscherten, in Schneefutteralen steckenden Felsen.
Der unwiderstehliche Drang ihnen zu folgen schien ihn zu zerreißen und sein Inneres auszuhöhlen.
Dieser Weg führte zurück in die vertraute Welt, zu seinem Volk und dem Trost der Gemeinschaft. Dieser Weg führte zu Lachen, warmen Feuern in der Nacht, den alten Legenden. Seine letzte Verbindung zu der Sicherheit, zu seinem angestammten Platz unter den anderen, der stets ein Teil seines Lebens war, würde sich mit ihren Spuren im Schnee auflösen.
Zu viel! Ich kann dieses Leben nicht aufgeben!
Entschlossen hob er seine Speerspitzen und Schneeschuhe auf, die er achtlos auf den Boden geworfen hatte, und rannte den Spuren seines Volkes hinterher. Kaum hatte er einige Schritte zurückgelegt, blieb er stehen und blickte zurück zu den Hügeln, zurück auf Reihers Teich. Angst fraß sich in sein Rückgrat. Eiseskälte überschwemmte ihn.
»Nein«, schalt er sich leise, als ihn die Sehnsucht zur Umkehr packte. »Nein, ich bin nicht der Richtige.«
Weiter dem Pfad folgend, versuchte er, das Gefühl, die falsche Entscheidung getroffen zu haben, zu unterdrücken. Doch sein Herz ließ sich nicht belügen. Seine Schritte führten ihn nicht in die Freiheit.
Die Nacht holte ihn im offenen Gelände ein. Der Sonnenuntergang am fernen Horizont färbte die Wolkenbänder brennend Orangerot. Allein und verlassen kauerte er sich in eine Felsnische, die Sonnenvater im Laufe des Tages aufgeheizt hatte. Die Wärme würde noch einige Zeit anhalten.
Verzweifelt versuchte er einzuschlafen.
Träume suchten ihn heim. Visionen. Bilder der Traumjagd, das grüne Tal mit grasendem Wild, die letzten rasselnden Atemzüge des Wolfes. Die Bilder drängten sich ihm auf, verspotteten ihn, lockten ihn wie die zärtlich ausgestreckten Arme einer Geliebten. Der bittere Geschmack des Wolfsfleisches lag auf seiner Zunge. Im Traum tollte der Wolf im saftigen Gras, doch plötzlich unterbrach er sein Spiel, drehte sich zu ihm um und hob die Schnauze. »Verschmähst du meine Verheißung?« fragte er.
»Nein! Nein, ich … es gibt einen Würdigeren als mich, jemanden, der…«
»Ich habe dich gewählt.«
»Nein!«
Wie vom Donner gerührt erwachte er und blickte angstvoll in die stockdunkle Nacht.
Schweiß lief ihm in Strömen über die Brust. Seine Haut juckte.
Der harte Fels bohrte sich in sein Fleisch, die frostige Kälte fraß sich durch seine langschäftigen Stiefel.
»Ich habe Angst!« flüsterte er. Tränen traten ihm in die Augen. Mit der Faust schlug er auf den Felsen.
»Entsetzliche Angst. Was ist bloß mit mir geschehen?«
Der Wind trug einen beißend scharfen Geruch heran. Er stützte sich auf die Ellenbogen und lehnte sich zurück. Draußen in der Nacht begann ein Wolf aufzuheulen, ein ganzer Wolfschor fiel ein.
Unheimlich, als ob sie ihn suchten, gellte das Heulen in seinen Ohren.
KAPITEL 22
Eine frische Brise strich über die kabbeligen, von weißem Schaum gekrönten Wellen. Eisfeuer saß auf einem hohen Felssockel und schaute über den tosenden Großen Fluß. Die sanften Hügel am anderen Ufer verschwammen in schimmerndem Blaugrün. Weiter im Osten blitzte das grandiose, ehrfurchtgebietende Weiß des Großen Eises. Er warf einen Blick über die Schulter auf die schneebedeckten Gipfel der mächtigen Berge. Die Lange Helligkeit hatte ihren Höhepunkt erreicht.
Das Land pulsierte vor Leben.
Schwärme von Gänsen breiteten die stolzen Flügel aus und flogen empor zum azurblauen Himmel.
Vögel schwebten über dem Wasser und stießen
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