Vorzeitsaga 02 - Das Volk des Feuers
in ihm. Mit einer wohlüberlegten Geste hob er den Arm und zeigte in eine bestimmte Richtung. »Dort ist sie.«
»Gut. Sehen wir nach. Vielleicht kann ich dir unterwegs ein wenig Vernunft beibringen.« Zwei Rauchwolken streckte ihm die Hand hin.
Ohne es eigentlich zu merken, übersah Kleiner Tänzer die ihm gereichte Hand und ging traurig, aber zielstrebig los. Noch immer liefen ihm die Tränen über das Gesicht. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und fuhr sich mit einem schmutzigen Ärmel über die Augen, um die Nebelschleier zu vertreiben und einen klaren Blick zu bekommen.
In seinem Geist formte sich ihr Bild. Sie lächelte ihn an, er hörte ihre sanfte Stimme. Im Feuerschein des warmen Zeltes sah er die Liebe und Fürsorglichkeit auf ihrem Gesicht. Wie oft hatten ihn ihre zärtlichen Hände getröstet, seine Schmerzen gelindert? Wie oft hatte ihr Gesicht vor Freude gestrahlt, wenn sie ihm eine Geschichte erzählte oder ihm zusah, wie er über die von ihr zubereitete Brühe herfiel? Wessen warme Hände hatten die Decken bis unter sein Kinn hinaufgezogen, wenn die eisigen Winternächte kamen? Wer hörte ihm zu, wenn er Sorgen hatte?
Sie hatte stets seine Seele erhellt, nun war ihr Licht flackernd verlöscht, unendliche Dunkelheit hinterlassend.
Die morsche Pappel war schon vor Jahren umgestürzt. Regen und Wind hatten die Rinde im Laufe der Zeit vom Stamm gelöst, die grelle Sonne der Ebene hatte das weiche Holz inzwischen silberweiß gebleicht. Wo sich der Stamm in zwei dicke Äste gabelte, lag Salbeiwurzel, auf das helle Gerippe des Baumes gebettet. Ihr Kopf war nach hinten gefallen, sie bot ihr Gesicht der Morgensonne dar.
Sie sah unendlich müde und verletzlich aus. Neben ihr lagen in einem geöffneten alten Beutel ihre Werkzeuge zum Ausnehmen der Tiere. Auf dem Boden blitzte eine schräg auf der Seite liegende schwarze Obsidianklinge. Dort, wo Splitter abgeschlagen worden waren, funkelte das Sonnenlicht auf den gläsernen Rillen. Ein kleiner Hammerstein aus Quarzit lag neben dem Obsidian.
Über der großen Blutlache, die ihr Kleid tränkte, summten in einer feinen Wolke bereits die Fliegen.
Eine feste Hand packte Kleiner Tänzer an der Schulter und versuchte, ihn zurückzuhalten. »Geh ins Lager«, befahl Zwei Rauchwolken. »Sofort! Du sollst nicht…«
»Sie hat sich die Handgelenke aufgeschnitten, Zwei Rauchwolken.
Ich fühlte es. Dabei ist mir schlecht geworden. Sie schnitt sich die Pulsadern auf und ließ mich ganz allein zurück.« Wieder schössen heiße Tränen aus seinen Augen. »Warum hat sie sich umgebracht?
Warum hat sie mich zurückgelassen? Ich brauche sie doch, Zwei Rauchwolken. Ich brauche sie. Sie soll mich festhalten.«
»Wir gehen sofort zurück.«
»Es hat nicht weh getan«, murmelte Kleiner Tänzer weinend. »Obsidian ist sehr scharf. Sie hat einfach einen Splitter abgeschlagen und sich damit die Pulsadern geöffnet. Und ist gestorben. Zwei Rauchwolken, warum ist die Welt so grausam zu uns?«
Die Hand auf seiner Schulter führte ihn sanft, aber unerbittlich weg. Dann zog Zwei Rauchwolken ihn fest an sich und umarmte ihn.
Einander in den Armen liegend weinten sie, jeder allein seinem Schicksal überlassen. Nichts konnte Kleiner Tänzer über die schmerzhafte Leere in seinem Innern hinwegtrösten.
Er war leer. So vollkommen leer.
Schwerer Biber erwachte. Er blinzelte hinauf zum Rauchabzugsloch, wo er ein Stückchen blauen Himmel sehen konnte. Er hatte schlecht geschlafen. Wie eine nebelhafte Erscheinung war der Geist seiner Mutter aus den Schatten seiner Träume aufgetaucht. Ihre wie ein Echo nachhallende Stimme hatte versucht, Klarheit in seine Gedanken zu bringen.
Warum konnten nicht alle Frauen so perfekt sein wie seine Mutter? Eine unendliche Sehnsucht nach ihr erfüllte ihn. Er hatte sie geliebt, wie er niemals eine andere Frau würde lieben können.
Der kleinste Anlaß hatte genügt, und sie eilte herbei. Wenn die anderen Jungen ihn hänselten, stürzte sie mit einem Stock in der Hand hinzu und verjagte sie. Hatte er sich auch nur die kleinste Verletzung zugezogen, kam sie und tröstete ihn mit gurrender Stimme. Wenn sich sein Vater gegen ihre seiner Meinung nach übertriebene Fürsorge auflehnte und versuchte, ihn nach draußen zu schicken, damit er mit den anderen Kindern spielte, überschüttete sie ihren Mann mit schändlichen Drohungen. Allen Schwierigkeiten der Welt stand sie unerschrocken gegenüber. Von allen aus dem Volk verstand nur sie seine Ängste und
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