Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
Norden flackerten die Feuer des Schwarzspitzen-Lagers. Morgen würde er die Leute um den Ort des Todes herum auf die andere Seite des Grats führen. Tief atmete Windläufer die warme Nachtluft ein und versuchte, den Schmerz in seiner Seele zu lindern. Er hatte die Dunkelheit herbeigesehnt. Nun konnte er sich vorstellen, Weiße Esche käme wie damals den schneebedeckten Hang herauf.
Im fahlen Licht des am Horizont aufgehenden Mondes erhob er sich und machte noch einmal dieselben Schritte wie in jener Nacht. Hier, genau an dieser Stelle, hatte er sie in den Armen gehalten, hier hatte sie ihn zu überreden versucht, mit ihr wegzulaufen.
Hätte ich gewußt, was kommt, ich wäre mit dir gegangen, Weiße Esche. Er warf den Kopf in den Nacken und versank völlig in Erinnerungen. Er spürte, wie ihn ihre Arme zu jener letzten Umarmung umschlangen und…
»Windläufer?«
Jeder Muskel seines Körpers straffte sich. Für einen winzigen Augenblick drehte sich alles um ihn herum. Sein Herz pochte heftig vor Aufregung, heiße Freude strömte durch seine Adern. Ist das möglich? Kann es sein …
»Windläufer?« Die Stimme klang höher und melodischer, als er sie in Erinnerung hatte.
Er schluckte vernehmlich und wandte sich mit heftig hämmerndem Herzen um. Die Frau stand vom Mondlicht überflutet hinter ihm kleiner, zierlicher als Weiße Esche.
Er schwankte und setzte sich rasch auf einen Felsen. »Espe? Was machst du hier?«
Sie kam näher, der Kies knirschte unter ihren Mokassins. »Ich habe dich gesucht. Großvater macht sich Sorgen. Er hat mich nach dir geschickt.«
Windläufer nickte, verärgert und dankbar zugleich.
Sie blickte sich um, ihre scharfen Augen taxierten das Land. »Es war hier, nicht wahr?«
Er schluckte. Mit schnarrender Stimme antwortete er: Ja, genau hier.«
Sie setzte sich neben ihn auf den Fels. »Ich hoffe, sie lebt und du findest sie.«
Er lächelte wehmütig. »Wirklich?«
»Ich weiß, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren.« Sie warf ihr langes Haar über die Schultern zurück. »Zuerst starb meine Mutter. Dann mein Vater. Schließlich meine beiden Brüder und zuletzt mein Mann der Mann, den ich mehr liebte als mein Leben.« Sie lehnte den Kopf an den Fels und starrte zu den hell funkelnden Sternen hinauf. »Er ist da, irgendwo da oben hoffe ich.«
»Du hoffst es nur?«
Sie nickte. Das Mondlicht offenbarte den Kummer in ihrem herzförmigen Gesicht. »Er hat mich fünf Tage vor dem Überfall auf den Stamm der Gebrochenen Steine geheiratet.« An jedem Finger einer Hand zählte sie die Tage ab.
»Er kam nie zurück.« Sehnsucht schwang in ihrer Stimme mit. »Ich wußte lange nicht, was ihm wirklich zugestoßen ist, nur, daß er getötet wurde. Einziger Mann hat mir schließlich erzählt, was passierte. Er gehorchte dem Anführer unserer Krieger nicht und stürmte mitten unter die Feinde.« Sie schüttelte den Kopf. »Er war noch so jung. Vielleicht dachte er, er könne sich auf diese Weise einen Namen als tollkühner Krieger machen. Aber es kam alles ganz anders…« Sie zögerte. »Einziger Mann und die anderen mußten zusehen, wie die Krieger der Gebrochenen Steine ihn abschlachteten.« Sie kniff die Lippen zusammen und machte eine Kopfbewegung zu den Sternen hinauf. »Deshalb hoffe ich, daß er dort oben ist… ich hoffe, seine Seele ist wenigstens so weit aufgestiegen, daß der Große Donnervogel sie in das Lager der Toten bringen konnte.«
»Das wußte ich nicht.« Windläufer rutschte unbehaglich hin und her.
»Du kümmerst dich nicht besonders um das Schicksal anderer Leute.«
Er sah sie scharf an. »Nein?«
»Nein. Aber das macht nichts … eine Zeitlang jedenfalls. Der Verlust ist noch zu frisch in deiner Erinnerung. Es braucht Zeit, bis die Wunden deiner Seele heilen.«
Er schnaubte mißbilligend. »Du scheinst eine Menge über mich zu wissen.
»Ja«, antwortete sie schlicht. »Ich habe dich häufig beobachtet und mir Gedanken über dich gemacht.«
»Hast du nichts Besseres zu tun?«
Sie zog ein Knie an und stützte das Kinn darauf. »Ich glaube, ein Mann ein Weißlehm-Krieger deines Alters , dem es gelingt, die Angehörigen des Schwarzspitzen-Stammes zu überreden, so weit nach Süden zu gehen, verdient besondere Aufmerksamkeit. Ich wollte wissen, mit wem wir es zu tun haben.
Ich habe dir gut zugehört. Der Stamm sitzt in der Falle und du bietest einen Ausweg an.«
Er blickte nach Norden. »Nichts wird die Stämme hinter uns aufhalten.
Das Sonnenvolk
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