Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
auf den gefrorenen Boden frei. Über die Geländestufen zog gerade ein Wapitirudel zu den weiter unten liegenden Bäumen. Weiter unten zogen sich schräg abfallende Salbeistrauchhänge bis zum Ufer des Coldwater River, der nach Osten floß und schließlich in den Elk River mündete. Dieser schnitt sich tief in die felsigen Engpässe der jäh aufragenden Black Mountains.
Kranker Bauch drehte sich um und beobachtete, wie die Round Rock Mountains das rötliche Licht der Morgendämmerung einfingen und vor dem Hintergrund eines tiefblauen, kristallklaren Morgenhimmels rosa aufleuchteten. Eine schwache, kaum spürbare Brise kündigte den Wind an, der im Laufe des Tages aufkommen würde. Am Fuß des Gebirgskamms, windgeschützt zwischen Felsausbuchtungen, befand sich das Lager. An seiner Rückseite sprudelte das ganze Jahr über eine kleine Quelle, die das Stückchen Land mit Weiden, Gras und Espen ausreichend bewässerte. Die hier wachsenden Binsen und Seggen bereicherten im Sommer das Nahrungsangebot des Volkes. Unterhalb des Lagers ging der spitz auslaufende Berghang in flaches Schwemmland über. Dort wellten sich mit Beifuß und Dornensträuchern bewachsene Sanddünen.
»Onkel?«
Knolle kletterte den Pfad herauf. Der Junge reichte Kranker Bauch bereits bis an die Brust; eine stolze Größe für seine dreizehn Winter. Seinen breiten Schultern nach zu schließen würde Knolle sicher ein außerordentlich kräftiger Mann werden. Warmes Feuer hatte seinen Sohn bereits mit auf die Jagd genommen. Knolle konnte sich geräuschlos wie der Schatten des Großen Habichts durch das Dickicht bewegen. Er war das erste männliche Familienmitglied, das nicht nach Rittersporns Familie schlug. So ein Kunststück konnte natürlich nur Warmes Feuer vollbringen.
»Guten Morgen, Neffe.« Das Gesicht des Jungen wirkte abgespannt und übermüdet.
Dicht neben Kranker Bauch blieb Knolle stehen. Er schlug auf seinen Hirschhautmantel, um sich die Hände zu wärmen.
»Geht's dir gut?«
Der Junge warf ihm einen raschen Blick von der Seite zu, seine empfindsamen braunen Augen blickten zurückhaltend. »Ich weiß nicht. Doch, ich glaube schon.«
»Gehen wir ein Stückchen. Dann wird uns wärmer. Wenn du einen Busch für Feuerholz mitnehmen willst, trage ich ihn.«
Achselzuckend schloß sich Knolle Kranker Bauch an.
Kranker Bauch suchte den Himmel nach Anzeichen für das kommende Wetter ab: windig und kalt. Leise fragte er: »Hast du deinen Vater heute morgen schon gesehen?«
»Sein Zustand ist unverändert. Eher schlechter.«
Ein merkwürdiger Unterton schwang in der Stimme des Jungen mit. Kranker Bauch schielte zu ihm hinüber. »Was ist los?«
Gereizt trat Knolle gegen den Bau eines Eselhasen. »Ich mache mir Sorgen wegen Schwarze Hand. Ich weiß auch nicht… es ist nur so ein Gefühl.«
»Was für ein Gefühl?«
»Ich finde, wir sollten ihn wegschicken.«
Kranker Bauch deutete auf einen Beifußstrauch, ohne Knolle aus den Augen zu lassen. »Reiß den Busch heraus. Ich trage ihn. Hast du einen bestimmten Grund dafür, warum du Schwarze Hand wegschicken möchtest?«
Halbherzig zog der Junge an dem Strauch. »Schwarze Hand hat gestern abend, nachdem alle schlafen gegangen waren, mit Rittersporn gesprochen. Er sagte, mein Vater würde heute sterben.«
Kranker Bauch zuckte zusammen. Schwarze Hand konnte nicht irren. Zu seiner Begabung, mit einer Macht umzugehen, kam die Fähigkeit, den Weg der Seelen zu sehen und zu wissen, wie sehr sie sich an den Körper klammerten. »Er ist ein Heiler.«
Der Rücken des Jungen straffte sich, er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die störrische Pflanze und drehte sie wieder und wieder herum. Die Wurzel gab ein lautes, knackendes Geräusch von sich und löste sich aus dem Boden. »Dann soll er heilen!«
»Manchmal kann selbst der beste Heiler nicht mehr helfen.«
»Möglich«, entgegnete Knolle mürrisch. »Hast du gewußt, daß Grünes Feuer drüben im Dreigabelungenlager Schwarze Hand beschuldigt, Menschen zu verhexen?«
»Hat Schwarze Hand das erzählt?«
»Ja, unter anderem. Sie dachten, ich würde schlafen. Du weißt ja, wie offen die Leute reden, wenn sie glauben, ein Kind schläft und hört sie nicht. Aber wenn er Leute verhext, Kranker Bauch, warum sollte er dann verhindern, daß mein Vater heute stirbt… Er hat seinen Tod angekündigt, das wäre doch ein Beweis für seine Macht, oder?«
Kranker Bauch klemmte den borstigen Beifuß unter seinen gesunden Arm. »Das ist nur
Weitere Kostenlose Bücher