Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
Bündel.
Weiße Esche senkte den Kopf; ihre verkrampften Beine schmerzten.
»Ich fühlte das Große Eine, und ich glaube, ich hörte die Stimme des Ersten Mannes.« Sie schüttelte den Kopf. »Es scheint, je näher ich herankomme, um so weiter entfernt sich das Große Eine.«
Singende Steine legte die Fingerspitzen aneinander, die alten Augen wissend auf sie gerichtet. »Du wirst den Weg finden.«
Ihre Beine waren eingeschlafen und kribbelten unangenehm. »Wann? Wieviel Zeit bleibt mir noch?
Ich muß träumen.« Heftig massierte sie ihre Waden. »Vielleicht… vielleicht bin ich nicht die Richtige.«
Die Runzeln in Singende Steines Gesicht vertieften sich. »Wenn du das glaubst, findest du den Weg nie. Nur Glaube und Selbstaufgabe bringen dich ins Große Eine.«
»Glaube? Selbstaufgabe? Worte, Singende Steine. Nichts als Worte.«
Stilles Wasser, der schlafend auf seinen Decken lag, seufzte leise. Der alte, abgewetzte Beutel, in dem er das Wolfsbündel stets bei sich trug, lag neben seinem Kopf. Er wachte auf und rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen. Aus gepeinigten Augen starrte er Weiße Esche an. Mit rauher Stimme sagte er: »Es hat angefangen.«
Weiße Esche warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Was?«
Stilles Wasser setzte sich auf. »Das Sonnenvolk ist im Wind Basin. Ich ich habe geträumt. Ich flog mit dem Wolfsbündel. Ich sah niedergemetzelte Menschen, gefangene Frauen.«
Fassungslos starrte sie ihn an. »Tapferer Mann kann gar nicht dort sein. Nicht so schnell.«
Stilles Wassers Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Ihn sah ich nicht. Trotzdem glaube ich, daß mein Traum der Wahrheit entspricht. Mein letzter derartiger Traum hat sich auch bewahrheitet.
Damals sah ich das Lager, das Tapferer Mann zerstört hat. Ich sah die Tänzer, die sich um das Feuer versammelten. Sah ihn… und dich. Ich sah es!«
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Singende Steine zu. Der alte Mann saß unbeweglich auf seinem Deckenstapel. »Eine Macht wartet nicht auf einen Menschen… nicht einmal auf eine Träumerin.«
Draußen in der Dunkelheit peitschte eine wütende Bö durch die Kiefern, schürte die Glut des Feuers und ließ es prasseln und knacken. Irgendwo in der Ferne erklang der Klageruf einer Eule.
Weiße Esche zuckte zusammen. Tapferer Mann? Im Wind Basin?
»Was ist mit deinen Leuten?« fragte Stilles Wasser. »Wir müssen etwas tun. Wir können doch nicht das Sonnenvolk …«
»Ihr könnt gar nichts tun«, unterbrach ihn Singende Steine. »Es sei denn, ihr wollt ins Wind Basin hinuntergehen und mit den anderen sterben.«
Stilles Wasser mahlte mit den Zähnen und hieb mit der Faust in die Decken. »Was geschieht da?
Warum? Was ist der Sinn von soviel Krieg und Sterben und Leid?«
Singende Steine sah hinauf zu seiner Elster, die auf ihrer Stange saß und den Kopf unter einen Flügel gesteckt hatte. »Eine Macht kümmert sich nicht um menschliches Leid. Nur die Verwirklichung des Traumes des Ersten Mannes hält die Spirale im Gleichgewicht. Er ist die Verbindung zwischen den Menschen und der Geisterwelt. Es ist die Aufgabe von Weiße Esche, einen neuen Weg für das Sonnenvolk zu träumen. Nur durch diesen Traum kann das Sonnenvolk dazu gebracht werden, den Traum des Ersten Mannes zu verstehen.«
Der Traum. Stets führt alles zu diesem Traum zurück… und zu mir. Nervös fuhr sie sich mit den Händen über das Gesicht. »Vielleicht kann ich nur träumen, wenn die Macht mir hilft. Vielleicht nur, wenn…«
»Wenn du es nicht kannst, dann nur, weil du im Netz deiner eigenen Illusion gefangen bist.« Der Feuerschein leuchtete in Singende Steines Obsidianaugen.
»Ja. daran liegt es«, schrie sie und gestikulierte wild. »Vielleicht kann ich mich nicht selbst aufgeben!«
»Du versuchst es mit zuviel Gewalt.«
»Wunderbar! Ich versuche es mit zuviel Gewalt. Was soll ich denn sonst tun? Damit aufhören und alles Tapferer Mann überlassen? Vielleicht gelangt niemand, der bei Verstand ist, je ins Große Eine.
Vielleicht lebst auch du nur in einer Illusion. Vielleicht ist das Große Eine nichts weiter als deine ureigenste Illusion.« Kaum waren ihr die scharfen Worte herausgerutscht, bereute sie sie auch schon.
Eine tiefe Enttäuschung schnürte ihr die Brust zusammen. Sie hatte Herz und Seele hingegeben und gewissenhaft die Anleitungen des alten Mannes befolgt. Seit fast einem Mond erreichte sie die federleichte Berührung, erlebte die Empfindung des Schwebens. Und jedesmal löste sich das Gefühl
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