Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
besonderes Wild abgesehen zu haben, wollte ihr aber nicht sagen, auf welches. Als er ihr sogar verbot, ein Waldhuhn zu erlegen, das genau vor ihren Füßen herumstolzierte, war sie richtig wütend geworden. Sie stieß einen hoffnungslosen Seufzer aus, denn Wanderer huschte gerade auf Zehenspitzen, die Augen unverwandt auf den Boden gerichtet, über den Fels.
Plötzlich blieb er, einen Fuß in der Luft, wie erstarrt stehen. Langsam ging er in die Knie, berührte sacht den Boden und flüsterte: »Komm her und sieh dir diese Spuren an, Flechte.«
Sie senkte den Bogen und trabte durch den Schatten der hohen Felsen zu Wanderer. Ihr Blick fiel auf nackten Fels, den hie und da kleine Anhäufungen alter Nadeln bedeckten.
»Ich sehe keine Spuren, Wanderer.«
»Ah, streng dich ein bißchen an. Sieh genauer hin.«
Flechte bückte sich so tief, daß ihr Gesicht nur knapp eine Handbreit vom Boden entfernt war. Der Wohlgeruch von Zedern stieg ihr in die Nase, aber Spuren entdeckte sie keine.
»Was für Spuren?«
Er fuhr herum und guckte sie an wie ein aufgescheuchter Storch. Sein Hemd aus Kaninchenfell und sein Lendenschurz schimmerten weißlich in einem zwischen den Felsen hereinfallenden Lichtstrahl.
»Flechte, du bist nicht so dumm, wie du dich anstellst. Was siehst du da unten?«
»Fels.«
»Und was noch?«
Wieder starrte sie auf den Stein. »Ein paar Zedernnadeln, die wahrscheinlich der Sturm am Vormittag hergeweht hat.«
»Jawohl!« Er stand auf und schlug ihr liebevoll auf den Rücken. »Jetzt mach deinen Bogen schußbereit. Sie ist hier irgendwo.« Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, seine Augen suchten sorgfältig das Gelände ab.
Flechte warf ihm einen mißtrauischen Blick zu und folgte ihm achselzuckend.
Die Nachmittagsluft roch feucht und klamm, als ob es bald regnen würde. Aufgetürmte Wolken zogen über den trüben, bernsteingelben Himmel. Zwei volle Monde waren seit dem letzten richtigen Regenguß vergangen.
»Ha!« rief Wanderer aus. »Noch mehr!«
Flechte trottete zu ihm und lugte über seinen gebeugten grauen Kopf. Mit dem Zeigefinger tippte er auf eine weitere Ansammlung von Zedernnadeln.
»Wir sind in ihrer Nähe, Flechte, sei also still. Am besten bleibst du hinter mir.«
»Gut. Geh voraus.«
Er zwinkerte ihr vertrauensvoll zu, dann stakste er auf Zehenspitzen weiter.
Sie schlich hinter ihm her, zwischen vereinzelten Felsen hindurch, wo Windmutter eine dünne Erdschicht hingeweht hatte und sich Wurzeln wie Fußangeln über den Pfad schlängelten. Wanderer streckte eine Hand nach hinten und hielt Flechte zurück. Er kniete nieder und strich ehrfürchtig über die Wurzeln. Schließlich drehte er sich um und starrte sie so durchdringend an, daß sie kaum zu atmen wagte.
»Ich muß dir etwas sagen«, murmelte er so leise, daß sie ihn kaum verstehen konnte. »Du weißt, rote Zedern sind heilig. Aber dieser Baum ist selbst unter den Zedern etwas Besonderes. Du darfst auf der Jagd nach dieser Zeder keinen Fehler machen. Das richtige Ritual muß unbedingt eingehalten werden sonst wird sie dich töten. Verstehst du?«
»Warum ist sie etwas Besonderes?«
Er beugte sich näher zu ihr und hauchte: »Diese Zeder ist der Baum der Ersten Frau. Sie wächst in drei Welten. Ihre Wurzeln sind neben der Höhle der Ersten Frau tief in der Unterwelt eingegraben, aber ihr Stamm und ihre Äste erstrecken sich über die Erde bis in den Himmel hinauf. Donnervogel legt seine Eier in ihre Zweige.«
Flechte hörte ihm fasziniert zu. »Und ich soll sie töten? Das scheint mir keine gute Idee.«
»Oh, wir müssen nur vorsichtig sein und alles richtig machen.«
Flechte befeuchtete ihre Lippen. »Bist du sicher? Und wenn Donnervogels Eier herunterfallen und zerbrechen?«
»Das wäre sehr schlimm. Es würde nie wieder regnen. Und wir haben ohnehin schon genug Kummer mit der Trockenheit.«
Sie nickte eifrig. »Ich weiß. Aber, Wanderer, ich glaube, ich bin nicht die richtige für diesen Schuß.
Hier«, sie reichte ihm den Bogen, »mach du es.« Geschwind trat Flechte einen Schritt zurück und faltete demonstrativ die Hände auf dem Rücken, falls er auf den Gedanken kommen sollte, ihr den Bogen zurückzugeben.
Freundlich sagte Wanderer: »Ich kann es nicht. Du willst Vogelmann finden.«
»Ist er auch in diesem Baum?«
»O ja«, erwiderte Wanderer.
»Warum kommt er nicht hervor und spricht mit mir? Dann müßte ich den Baum der Ersten Frau nicht töten.«
Nachdenklich blickte Wanderer auf ihren
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