Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
seinen Kopf bettete. Die langen Krallen leuchteten purpurn im Feuerschein.
»Wanderer, was machst du da?«
»Hmm?« Mit flinken Bewegungen korrigierte er die Lage eines Steines und eines Schädels.
»Kümmere dich nicht darum. Das dient nur zum Schutz, weiter nichts.«
Sie spürte das winzige Stechen aufkeimender Panik in ihrer Brust. »Zum Schutz? Wovor?«
Er grinste wie ein zähnebleckender Kojote. »Vogelmann ist dein Geisterhelfer, nicht meiner. Ich kenne ihn nicht so gut wie du.« Auffordernd wedelte er mit der Hand. »Ruf ihn, Flechte.«
»Vogelmann, Vogelmann, Vogelmann …«
Voll angekleidet streckte sich Wanderer auf seinen Decken aus und schloß die Augen. Fast sofort begann er zu schnarchen.
»Vogelmann, hörst du mich? Vogelmann! Vogelmann!«
Flechte atmete durch den Mund, um nicht die feinen roten Fuchspelzhärchen in die Nase zu bekommen, die einen fast unerträglichen Niesreiz auslösten. Mit gedämpfter Stimme näselte sie:
»Vogelmann, mir gefällt das bestimmt nicht besser als dir, aber anscheinend haben wir keine andere Wahl. Also warum kommst du nicht endlich und bringst die Geisterwölfe mit? Vogelmann, Vogelmann …«
Ihr Rufen ging in einen monotonen Singsang über. Mit der Zeit tat ihr der Hals so weh, daß sie fürchtete, er würde entzweibrechen. Doch nach und nach schien ihre Seele wie betäubt und ihr Körper schmerzunempfindlich zu sein.
Dunkle Schatten klammerten sich an die Decke. Das Feuer war längst heruntergebrannt, nur rote Glutsprenkel leuchteten zu Flechte herüber.
Mit dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, zog sie die Knie an. Aber gewissenhaft preßte sie unentwegt den Mund auf die Decke - genau auf die Stelle über dem Zedernholz. »Vogelmann, weißt du noch, wie du mir sagtest, ich müsse lernen, mit den Augen eines Vogels, eines Menschenwesens und einer Schlange zu sehen? Das versucht Wanderer mir gerade beizubringen.«
Die Symbole der Mächte an den Wänden blickten düster auf sie herab. Sie sahen sie mit den Augen von Geistern an, die sich längst an versagende Träumer gewöhnt hatten.
»Vogelmann … Warum kommst du nicht?«
Ein einsamer Wolf bellte scharf in der mitternächtlichen Düsternis nach seinem Rudel. Von der anderen Seite der Felsklippe antwortete Jaulen. Der erste Wolf stieß ein freudiges Geheul aus, und ein ganzer Chor fiel in die unheimliche Melodie ein. Flechte gähnte herzhaft. Ihr erschöpfter Körper schwebte auf den Lauten der Wölfe, wiegte sich wie ein Blatt auf einem träge fließenden Strom.
Pfoten tappten im beruhigenden Takt der heiligen Trommelschläge näher, hallten wider…
Aus den Zweigen unter der Decke ertönte ein Wispern. Flechte erstarrte. Zaghaft rief sie:
»Vogelmann!«
»Ich höre dich, meine Kleine. Ich habe die Wölfe gebracht.«
Flechte hörte das Schnüffeln eines Tieres. Sie drehte sich um und sah schemenhaft zwei riesige schwarze Gesichter im Türeingang. Mit ihren Schnauzen hatten die Tiere die Türvorhänge beiseite geschoben. In ihren gelben Augen glühte ein feuriger Schein. Einer der Wölfe tappte in das Zimmer und hob abwartend eine Pfote.
Flechte kniete sich hin. Ihre Kehle knisterte trocken wie Pappelblätter im fahlen Glanz des Herbstes, ängstlich krächzte sie: »Spannst du sie mir ein, Vogelmann?«
»Ja, wenn du bereit bist.«
»Meinst du, ich bin noch nicht soweit?«
»Dir sind die Flügel einer Träumerin gewachsen, aber sie sind noch feucht und zerbrechlich. Die Reise wird schwer für dich.«
Flechte schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. »Irgendwann muß ich es lernen, Vogelmann.«
»Ja, doch du bist noch so jung. Aber tapfer. Gut. Komm durch den Tunnel. Komm. Ich warte auf dich, Flechte.«
Die Wölfe näherten sich der Sänfte, steckten ihre Schnauzen durch die Schlaufen, die Wanderer aus seinen eigenen Haaren geflochten hatte, und hoben aufmerksam die Köpfe.
Sie warf einen letzten Blick auf Wanderers schlaffes, altes Gesicht. Sein Mund stand offen. Leise rief sie: »Ich habe Vogelmann gefunden, Wanderer. Ich versuche, zu dir zurückzukommen.«
Die Wölfe schauten sie fragend an. Einer wedelte mit dem Schwanz, als erwarte er Anweisungen.
Flechte hielt sich an den vorderen Pfosten ihrer Totensänfte fest. ,Auf geht's.«
Dunkelheit senkte sich auf sie herab, und sie tauchten hinein in die Finsternis.
KAPITEL 15
Winterbeeres brüchige alte Stimme begleitete brummend das kindliche Gekicher. Umringt von zwölf Kindern unter zehn Sommern schien die alte Frau wahrhaft
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