Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
Feuerschale. Als das Licht aufflackerte, kurz davor, zu verlöschen, brachte er nicht einmal die Willenskraft auf, Kessel zu rufen und zu bitten, Öl nachzugießen.
Nachtschatten erhob sich und stellte sich vor ihn hin. »Schicke mir morgen, bevor der Junge Wolf aufgeht, deine Eskorte. Ich werde warten.«
Das Echo von Schwester Daturas wissendem Lachen erklang.
Langsam atmete Nachtschatten aus. Mit dem Zeigefinger zeichnete sie die vielfältigen Muster auf den heiligen Körben nach. Sie sank auf die Knie. Die leisen Geräusche des schlafenden Tempels drangen in ihr Zimmer: Jemand schnarchte, Pfosten knackten» und ächzten, der Wind raschelte im Strohdach.
Nachtschattens Quellgefäß stand vor ihr auf dem Boden, sein schwarzer Umriß war in der Dunkelheit fast nicht zu erkennen. Sie beugte sich vor.
»Ich komme, Erste Frau. Ich komme. Öffne das Tor zum Quell der Ahnen.«
Das Wasser reflektierte leicht gelblich schimmernd das unter den Türvorhängen hereinfließende Licht.
Bilder blitzten auf dem Wasserspiegel auf: Singw, die Orenda heftig schüttelte … Orenda, die in panischer Angst durch den Tempel floh und einen Raum nach dem anderen nach einem Versteck absuchte, bis sie sich endlich hinter einem Stapel Decken verkroch … der alte Murmeltier, der wie ein verwundeter Geier in sein Quellgefäß blickte … und Tharon … Tharon, der durch die Flure schlich …
»Was soll das, meine Schwester? Ich muß mit der Ersten Frau reden. Diese flüchtigen Bilder sagen mir nichts. Laß mich tiefer gehen.«
»Die Erste Frau hat das Tor geschlossen. Niemand darf eintreten. Heute nacht gibt es nur dich und mich, Nachtschatten.«
»Was? Warum? Was habe ich getan, warum «
Übelkeit überwältigte sie. Sie erhob sich und versuchte schwankend ihr Bett zu erreichen. Auf halbem Weg erbrach sie sich. Sie sank nieder und preßte ihre heiße Wange an den kühlen Boden. »Oh, meine Schwester, geh sanft mit mir um.«
KAPITEL 17
Das lang anhaltende, tiefblaue Dämmerlicht des Pflanzmondes breitete sich über das Land und trug Windmutters Wut herbei. Die ganze Nacht über tobte ein brausender Sturm, der alles, was sich ihm in den Weg stellte, niederriß. Am Morgen wütete der Sturm noch immer. Er zerrte an Wanderers fransenbesetzten Ärmeln, fauchte durch die Wildkirschensträucher und raste den Abhang hinunter auf die Wiesen im Tal. Wanderer stand auf dem Felsgesims vor seinem Haus und blickte über das Land.
Seine Gedanken erstarrten wie Regentropfen in Winterjunges eisigem Griff. Von den Spiral Mounds im Süden stieg Rauch auf und zog sich als breite dunkelrote Spur am Horizont entlang. Krieg!
.. .Und Flechte war seit zwei Tagen nicht aufgewacht. Leblos lag das Mädchen auf der Sänfte in seinem Haus. Voller Verzweiflung fuhr sich Wanderer durch das verfilzte graue Haar.
Er hatte ihren Herzschlag geprüft und ihr einen Spiegel aus Glimmer unter die Nase gehalten. Nichts.
»O Flechte, was habe ich dir angetan? Ich … ich wollte doch nur, daß du den Tunnel siehst. Nie hätte ich gedacht, daß du imstande bist zu -«
Der Wind riß ihm die Worte von den Lippen und trug sie in weite Fernen.
Wanderer schlang die Arme um seinen Oberkörper und spazierte am Rand der Klippe entlang. Die smaragdgrünen Flecken der Maisfelder sprenkelten das Schwemmland. Dazwischen schlängelte sich der Vater der Wasser und flocht ein blaues Band der Hoffnung in ein Land, das unter der Frühsommerhitze zu verdorren begann.
Wanderer hatte Flechte auf diese Reise geschickt, ohne daran zu denken, sie könne die Fähigkeit besitzen, in den in die Unterwelt führenden Tunnel einzutreten. Er hatte gebetet, es möge ihr wenigstens gelingen, über den Rand des Tunnels in die Finsternis zu schauen. Denn selbst die größten Träumer brauchten Zyklen, bis sie dazu imstande waren und den Mut aufbrachten, in den sich abwärtswindenden schwarzen Schlund zu tauchen.
»Du hast sie unterschätzt, du alter Narr.«
Die Wahrheit brannte wie Feuer in seiner Seele. Er wußte besser als alle anderen, welch unmenschliche Kraft der Eintritt in das Land der Ahnen erforderte. Die Geschöpfe der Unterwelt hatten sich schreckliche Fallen ausgedacht, mit deren Hilfe sie die Seele eines Träumers fingen.
»Und du … du hast sie nicht einmal vor den Fallen gewarnt.«
Das Schuldgefühl schnürte ihm das Herz zu und drohte ihn zu ersticken.
Wenn sie morgen früh noch immer nicht aufwachte, mußte er etwas unternehmen. Aber was? Selbst in der kleinsten Störung
Weitere Kostenlose Bücher