Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Es war eines seiner rituellen Gewänder gewesen gesegnet vom Großen Raben im Himmel.
Die ganze Zeit über war sie still geblieben, völlig in Gedanken versunken. Ihre dunklen Augen blickten unverwandt auf die Leuchtkäfer, die draußen vor dem Eingang glitzerten wie tanzende Sterne.
Wanderer hatte die Türvorhänge hochgebunden, damit der kühle, nach Regen riechende Wind in das Haus blasen konnte. Leise plätscherten Regentropfen auf die Erde. Nicht viel Regen, aber genug, um die Welt zu benetzen. Der stürmische Wind hatte sich gelegt, nun wehte eine leichte, angenehme Brise. Der üppige Geruch nach feuchter Erde war herrlich und beruhigend. Am liebsten wäre er hinausgelaufen und hätte seinen Dank zu Donnervogel gesungen. Aber Flechte war ihm in dieser Nacht wichtiger.
Er tauchte einen Hornlöffel in den Teetopf, rührte das Gebräu zum zwanzigsten Male um und wartete geduldig, daß Flechte anfing zu reden.
Auch er hatte nach jeder Reise zu den Mächten viel Zeit gebraucht, um sich wiederzufinden, hatte nur dagesessen und in die Welt geschaut. Das Reden mit den Geistern entzog einem Träumer Lebenskraft und laugte seinen Körper aus. Er war erfüllt von einer unergründlichen Stille, die sich daunenweich auf die Seele legte.
Wanderer stand auf, nahm eine Handvoll Phloxblüten und siebte sie durch einen dicht an der Rückwand stehenden Korb. Ein zarter, blumiger Duft stieg auf.
Flechte blinzelte. Langsam drehte sie den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen leuchteten wie Sonnenlicht auf Schnee. Lächelnd rührte er die Blüten in den kochenden Wurzelsud.
»Ich habe Wolfstöter gesehen, Wanderer«, wiederholte sie leise.
»Tatsächlich? Wann?«
»Nachdem ich ans Ufer geschwommen war. Er saß am Ufer und wartete auf mich. Er ist wunderschön, Wanderer. Er glüht wie Vater Sonne.«
Wanderer hörte aufmerksam zu. Er hatte Wolfstöter nie gesehen jeder Träumer traf in der Unterwelt auf die unterschiedlichsten Geisterhelfer. Flechte legte ihre Hände in den Schoß und bewegte sie unruhig. Sie wirkte sehr verletzlich. »Und weiter?«
»Wir saßen am Fluß und unterhielten uns. Er sagte mir Dinge …«
Sie stockte. Ihr starrer Blick schien sich in der Ferne zu verlieren. Wanderer füllte zwei Holzschalen mit Tee, nahm die Waldhühner vom Bratspieß und legte sie in Tonschüsseln. Eine der Schüsseln brachte er Flechte und stellte sie neben ihre Knie. Sie war so in sich selbst versunken, daß sie seine Nähe nicht einmal wahrzunehmen schien. Er kehrte zum Feuer zurück, holte seine Schüssel und streckte sich auf seinem Bett aus.
Freundlich sagte er: »Erzähl mir von deiner Reise. Kam Vogelmann durch den Tunnel in den Zedernzweigen?«
»Ja. Er brachte die Wölfe mit. Sie steckten ihre Köpfe durch die Schlaufen, die du gemacht hast. Dann … dann ging es abwärts … in die Dunkelheit.«
Wanderer schlürfte dampfumwölkt seinen heißen Tee. »Iß etwas, Flechte. Wir haben genug Zeit.«
Sie riß ein Bein ihres Waldhuhns ab, biß hinein und begann nachdenklich zu kauen. Dabei betrachtete sie nacheinander jedes der an die Wände gemalten Machtsymbole. Die Spiralen und purpurnen Sternenregen schienen an diesem Tag besonders aufmerksam zuzuhören.
»Die Wölfe mußten Schwerstarbeit leisten, um die Sänfte durch den Fluß zu ziehen, Wanderer.«
»Das sind sie gewohnt. Der Fluß ist sehr tief und breit.«
»Und reißend. Die Strömung ist furchtbar schnell.«
»Du bist also hineingefallen und mußtest umkehren.«
Sie schluckte und schüttelte den Kopf. »Nein. Am anderen Ufer entdeckten wir Anzeichen für die Anwesenheit von Menschen. Fußspuren «
Entgeistert setzte er sich auf. ,Auf der anderen Seite? Ich dachte, du wärst auf dem Hinweg in den Fluß gefallen.«
»Nein, auf dem Rückweg.«
Wanderer straffte sich langsam. Sie hatte es quer durch das Land der Ahnen geschaßt und wieder zurück! In ihrem Alter! Fast unglaublich. Er hatte elf Zyklen gebraucht, um dieses Meisterstück zustande zu bringen.
»Wir sahen alte Feuerstellen und Espenstümpfe mit Axtmarkierungen. Und die Bäume, die Bäume, Wanderer! Sie waren so hoch, daß ihre Wipfel in den Wolken verschwanden. Vogelmann schwebte vom Himmel herab. Er war wunderschön. Seine Flügel schimmerten wie ein Regenbogen.«
»Brachte er dich in das Dorf der Ahnen?«
Gierig, fast ohne zu kauen, verschlang Flechte ein Stück Fleisch. »Er nahm mich ein kurzes Stück mit.
Vogelmann sagte zu mir, ich solle mit einigen
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