Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
habe sie noch nie darüber nachgedacht. Zögernd nahm sie ihre Schale auf, trank sie mit vier langen Schlucken leer und stellte sie auf den Holzteller zurück. »Ihr werdet nie mein Volk sein, Dachsschwanz. Ihr habt den Traum der Ersten Frau vergessen. ,Findet einen neuen Weg', sagte sie zu uns. ,Hört auf das Gras, die Wurzeln und die Beeren.' Tun wir das nicht, werden wir alle sterben. Dein Volk hat den Traum der Ersten Frau mißbraucht. Ihr findet es richtig, immer nur zu nehmen und zu nehmen.«
Müde stützte sie sich mit einer Hand auf den Häuten ab und erhob sich. »Vielen Dank für den Tee, Kriegsführer.« Sie wandte sich zur Tür.
Dachsschwanz stand so rasch auf, daß er stolperte und nach ihrer Hand griff. »Nachtschatten, bitte …«
Sie standen sich gegenüber und starrten einander an. Ihr Blick wanderte zu seiner Hand, die ihr Handgelenk mit festem Griff umschloß. Dann sah sie ihm abwartend ins Gesicht. »Wenn du einen Traum hast … würdest du … ich verlange nicht, daß du mir hilfst. Aber dort draußen leben Menschen, leben Kinder, die das, was kommt, nicht verdienen.«
Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Er brauchte ihre Hilfe - aber sie würde sie ihm nie gewähren.
Sein Blick folgte der Linie ihrer Kieferknochen. Er erinnerte sich, wie sie sich als Kind zu Tode verängstigt an sein Kriegshemd geklammert hatte, als sie auf der Suche nach dem Black Warrior River tage- und nächtelang durch die Sümpfe schlichen. Er hatte ihr nie weh tun wollen. Er hatte nur versucht, sein Volk zu retten. Unwillkürlich streichelte Dachsschwanz sanft über Nachtschattens Haar.
Sie war zu einer erstaunlich schönen Frau herangewachsen …
Nachtschatten erschauerte unter seiner Berührung. Instinktiv hob er einen Arm und wollte ihn ihr um die Schultern legen. Doch ihr Blick ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten. Einige quälende Augenblicke folgten. Plötzlich veränderten sich ihre Augen, wurden sanfter und verletzlicher, als er sie je gesehen hatte. Sie trat einen Schritt vor und sank in seine Arme.
»Halt mich nur fest«, sagte sie.
Er zog sie an sich. Der Duft ihrer Haare und die Berührung seines Körpers durch ihre Brüste brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Wie lange hatte er keine Frau mehr in den Armen gehalten? Zwanzig Zyklen? Ja - es war Zwei Fäden gewesen. Aber eine solche Intensität der Gefühle hatte er noch niemals gespürt. Nachtschattens Nähe gab ihm Trost bis in sein tiefstes Inneres und wärmte seine Seele wie eine warme Decke in einer kalten Winternacht den Körper. Er streifte mit dem Kinn über ihr Haar und gab sich einen scheinbar endlosen Augenblick lang diesem Gefühl hin. Warum hatte sie ihn gebeten, sie festzuhalten? War sie ebenso einsam wie er? Ebenso voller Sorge über die Zukunft?
Langsam, voller Angst vor ihrer Reaktion, beugte er sich zu ihr hinab und küßte sie. Bei der Berührung ihrer Lippen strömte eine feurige Woge durch seine Adern.
Nachtschatten wich zurück. Ihre Augen blickten suchend in sein Gesicht. »Binse lebt noch in meiner Seele, Dachsschwanz. Aber … ich danke dir.«
Er richtete sich auf. »Ich begleite dich zum Tempel zurück.«
»Das ist nicht nötig.«
»Ich halte es für vernünftig. Das Dorf ist nicht wie sonst. Es herrscht eine gereizte Stimmung denke an das Verhalten der Leute bei deiner Ankunft. Vielleicht brauchst du mich.«
Sie senkte den Kopf. »Ich danke dir.«
Dachsschwanz geleitete sie hinaus und ging mit ihr über das von Leuchtkäfern funkelnde Gras.
Morgen mußte er sich mit Tharon und Schwarze Birke zusammensetzen und seinen endgültigen Plan zur Vernichtung der von Petaga aufgestellten Armee darlegen. Tharons aberwitziger Befehl machte die beste Möglichkeit zunichte. Anstatt Redweed Village zu überfallen, sollte er zu den Häuptlingen der Dörfer im Norden gehen, insbesondere zu denen der größeren Orte, und Leute wie Blasenkirsche und Hennenfuß auf seine Seite bringen. Vielleicht gelänge es ihm dann, den Aufstand im Keim zu ersticken und einen großen Krieg zu verhindern. Möglicherweise könnte er sogar die White Glover Mounds zur Vernunft bringen; der Ort verfügte mindestens noch über vierhundert Krieger. Petaga würde niemals mit ihm verhandeln, solange seine Truppen in der Überzahl waren. Aber wenn Dachsschwanz ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte herstellen konnte, hatte Petaga kaum eine andere Wahl.
Plötzlich wurde sich Dachsschwanz bewußt, daß er die ganze Zeit über Nachtschatten angesehen
Weitere Kostenlose Bücher