Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
aber er hörte nur das Pochen seines Herzens.
»Taschenratte!«
Erwartungsvoll legte der alte Häuptling den Kopf schräg. Er war zweiundvierzig Sommer alt, seine langen schwarzen Haare und die buschigen Augenbrauen waren von grauen Strähnen durchzogen. Die Nase verbreiterte sich zu den Wangen hin und erinnerte an eine platt gedrückte Pflanzenknolle. Er trug ein uraltes Kriegshemd aus Hirschleder, auf dem in ausgebleichtem Blau das Bildnis eines Falken prangte - er prahlte, es habe ihm in seinen Anfangszeiten als Krieger Glück gebracht, er sei damit einer der größten Krieger der Red Star Mounds geworden. Aber Petaga hatte seine Zweifel, er hielt es nur für ein abgerissenes, schäbiges Hemd.
Taschenratte runzelte die Stirn. »Was gibt es, mein junger Petaga?«
»Ich bin … beunruhigt …«
»Weswegen?«
Petaga mahlte mit den Zähnen. Wenn du nicht bald mit jemandem darüber sprichst, zerreißt dich die innere Unruhe. Warum nicht mit Taschenratte? Er könnte der Richtige sein, mit ihm solltest du reden.
Er war der Lieblingscousin deiner Mutter, und ergab dir dreihundert Krieger für dieses riskante Unternehmen. Brauchst du noch mehr Beweise? Er glaubt an deine Sache. Trotzdem …
Petaga zog mit der Spitze seiner Sandale Rillen in den Boden. Im fahlen Mondlicht glichen sie der dunklen, sich windenden Spur einer Schlange. »Was, glaubst du, geschieht, wenn wir Tharon vernichtet haben?«
»Ich glaube, dann sind wir bedeutend besser dran.«
»Ja, schon … ich meine … also gut. Glaubst du, die dann noch bestehenden Dörfer werden weiterhin zusammenhalten? Schließlich ist Cahokia seit Hunderten von Zyklen der Mittelpunkt des Häuptlingtums. Seitdem diente der Handel jedem Dorf zum Vorteil. Von Cahokia aus wird der Handel zentral verwaltet, und auch die Umverteilung der Waren wird von dort aus organisiert. Und …« - er zögerte und versuchte, sich Alodas Worte möglichst genau ins Gedächtnis zu rufen - »die Dörfer haben zur Aufrechterhaltung des Handels stets Tribut entrichtet. Auf diese Weise hat das System funktioniert. Was geschieht, wenn kein Tribut mehr bezahlt werden muß?«
Taschenrattes Augen blickten ihn durchdringend an. »Du möchtest wissen, ob ich glaube, daß nach dem Sturz Cahokias der Handel zum Erliegen kommt?«
»Ja, ich befürchte das. Und du?«
Taschenratte hob den Kopf und betrachtete nachdenklich die ungewöhnlich hell funkelnden Sterne.
Seine langen Haare hingen wirr über seine braun und grün karierte Decke aus gewebtem Stoff.
»Wahrscheinlich.«
Taschenratte sagte das so unbekümmert, daß Petaga ihn mit offenem Mund anstarrte. ,Aber was machen wir dann?«
»Einander bekämpfen, nehme ich an.« Taschenratte grinste breit. »Das ist doch nichts Neues. Wir haben zehn Zyklen lang gegeneinander gekämpft. Mit Kampf hat alles angefangen mit den Brüdern Wolfstöter und Vogelmann. Auch sie haben sich bekämpft. Wir haben immer gekämpft, wenn auch nie mit so vielen Kriegern wie heute.«
»Du bist also überzeugt, wir werden einander an die Gurgel gehen? Es wird noch schlimmer als jetzt?«
»Mmmh … nein.« Taschenrattes Lächeln wurde so hart wie ein Hammerstein aus Quarzit. Im Dunkeln sah Petaga das Funkeln in seinen Augen. »Wenn alles vorbei ist, gibt es ein paar weniger von uns. Ich vermute, zwei Drittel unserer Leute werden geflohen sein, wenn dieser Krieg vorüber ist.«
Taschenratte verstummte und atmete tief die nach Erde riechende Luft ein. »Du hast die endlosen Schlangen der Flüchtlinge gesehen. Alle schleppen ihre Besitztümer auf dem Rücken. Du hast dir doch nicht eingebildet, die kommen wieder, oder doch?«
»Aber warum denn nicht?« stieß Petaga hervor. »Wir bauen für sie ein besseres Leben auf!«
Taschenratte lachte leise in sich hinein. »Wir bauen ein besseres Leben für uns auf, Cousin. Wer es sich leisten kann, treibt nach dem Krieg weiterhin Handel. Auf diese Leute wartet unvorstellbarer Reichtum. Die Preise werden steigen, denn nichtalltägliche Waren werden selten sein. Die Sonnengeborenen mit ihren Schätzen an Spitzen, Bleiglanz, Kupfer und Seemuscheln sind dagegen weiter nichts als arme Leute.«
Petagas Magen verkrampfte sich. Unruhig zupfte er am goldenen Tuch seines Gewandes. Er nahm sich zusammen und glättete rasch die Falten. Zorn und Abscheu wuchsen in ihm zu einer explosiven Mischung. Bitter stieß er hervor: »Hast du mir deshalb deine dreihundert Krieger für diesen Kampf überlassen?«
»Natürlich«, antwortete Taschenratte.
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