Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
gab Wanderer und Wühlmaus ein Zeichen. »Folgt mir. Uns steht eine lange Nacht bevor. Flöte, begleite uns.«
Während Dachsschwanz vor Wanderer, Wühlmaus und dem jungen Flöte die Treppe zum Tempelhügel erklomm, schweifte sein Blick über die Palisadenwand auf die im Mondlicht leuchtenden Bänder der Bäche und die winzigen, so groß wie eine Ahlenspitze aussehenden Teiche.
Warum bin ich immer noch hier? Alles, was ich in meiner Jugend geliebt habe, ist verschwunden. Ich hätte weglaufen sollen. Einen Augenblick lang schienen die leuchtenden Farben des Verbotenen Landes in stummem Versprechen nach ihm zu rufen.
Als Dachsschwanz den Tempeleingang erreichte, riß er sich aus seinen wehmütigen Gedanken. Er verneigte sich vor den Sechs Heiligen und trat beiseite, damit Wanderer, Wühlmaus und Flöte ebenfalls ihre Huldigung darbringen konnten. Währenddessen blickte er zum Himmel hinauf, wo skelettartige Wolkenfinger über die Körper der Sternenungeheuer griffen. Sie deuteten nach Süden, sie schienen ihn von diesem Wahnsinn weglocken zu wollen.
»Flöte, sieh zuerst in dem Sonnenzimmer nach. Falls Nachtschatten nicht dort ist, begleite Wanderer und Wühlmaus zu ihrem Zimmer.«
Flöte nickte unbehaglich. Er fürchtete den Zorn Nachtschattens, wenn er sie störte. Aber Dachsschwanz beschwichtigte ihn und ging ihnen voraus in den Tempel. Sie gingen an den herrlichen Wandmalereien vorbei. Die meisten Feuerschalen waren erloschen oder gar nicht erst angezündet worden. War der Mangel an Hickoryöl daran schuld? Im Dämmerlicht sah es so aus, als blickten die Abbilder der Ersten Frau und Großvater Braunbärs geringschätzig und grüblerisch auf ihn herunter.
Sie näherten sich dem Korridor, der zum Sonnenzimmer führte. Zwei schemenhafte Gestalten lehnten mit verschränkten Armen an der Wand. Im Näherkommen erkannte Dachsschwanz die vertrauten Gesichter von Hufspur und Schwarzer Hund. Auch sie erkannten ihn und eilten ihm entgegen.
»Dachsschwanz.«
»Schwarzer Hund. Hufspur.« Dachsschwanz drückte ihnen herzlich die Hand. »Wie stehen die Dinge?«
Hufspurs häßliches Gesicht nahm einen verkniffenen Ausdruck an, als er über Dachsschwanz' Schultern auf die beiden Fremden blickte. Dachsschwanz wandte sich um und winkte Flöte. »Geh weiter, Flöte. Sieh in dem Sonnenzimmer nach, anschließend bringst du Wanderer und Wühlmaus in Nachtschattens Zimmer.«
»Ja, Kriegsführer.«
Hufspurs Anspannung ließ kaum merklich nach, obwohl sich Wanderer und Wühlmaus bereits außer Hörweite befanden. Mißtrauisch beobachtete er, wie sie in das Sonnenzimmer lugten und gleich darauf nach links in einen Korridor abbogen.
Dachsschwanz runzelte die Stirn. »Was ist denn?«
Unbehaglich schielte Hufspur zu Schwarzer Hund hinüber. Nach kurzem Zögern legte er schließlich entschlossen die Faust auf seine am Gürtel befestigte Kriegskeule. »Wir wissen es nicht. Häuptling Große Sonne hat uns befohlen, seine Kammer zu bewachen. Er erteilte uns unter Androhung des Todes den strikten Befehl, niemand dürfe seine Kammer betreten. Aber es gehen seltsame Dinge vor.«
»Wovon sprichst du?«
Hufspur schüttelte den Kopf. »Gedämpfte Geräusche und Schreie drangen aus dem Zimmer des Häuptlings. Er befahl uns, ein kleines Mädchen zu ihm zu bringen. Bald darauf tauchte seine Tochter, Orenda, auf und huschte an uns vorbei hinein.«
Prüfend betrachtete Dachsschwanz Hufspurs Gesicht, dann musterte er nicht weniger durchdringend Schwarzer Hund. Zu Tode verängstigt. Alle beide. »Und Nachtschatten? Wo war sie während dieser Vorfälle?«
»Wir haben sie nicht gesehen.«
Dachsschwanz' Stirn legte sich in Falten; seine buschigen Augenbrauen stießen über der Nase zusammen. Wie war es möglich, daß Nachtschatten nicht zur Stelle war, wenn Orenda sie brauchte?
Das ergab keinen Sinn. Nachtschatten behandelte Orenda inzwischen fast wie eine eigene Tochter.
»Bleibt da, von hier aus könnt ihr den Vordereingang im Auge behalten. Gebt mir Bescheid, falls irgend jemand kommt. Ich muß mit Häuptling Große Sonne sprechen.«
Er wandte sich ab, um den nach rechts abzweigenden Korridor hinunterzugehen, da rief Hufspur ihm nach: »Dachsschwanz, stimmt das? Wird Petaga Cahokia angreifen?«
Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, antwortete er: »Ja.«
Hinter ihm erhob sich ängstliches Flüstern, aber er achtete nicht darauf. Zu viele Fragen, den bevorstehenden Angriff Petagas betreffend, stürmten auf ihn ein. Wen von seinen Kriegern
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