Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
durch den verschneiten Wald. Die Ohren hatte er aufmerksam gespitzt, damit ihm keine Gefahr entging. Er war verblüfft, von welchen Gerüchen die Welt erfüllt war. Die lange Schnauze am Boden, stöberte er nach Beute, den Schwanz hielt er gesenkt. Eine Hirschkuh war vor kurzem mit ihrem Kalb den Wildwechsel entlanggelaufen, und ein Hase hatte ihn auf dem Weg zur darunter liegenden Wiese überquert. O ja, natürlich konnte er ihre deutlich in den Schnee eingedrückten Spuren erkennen, aber sie reizten ihn nicht. Der Geruch jedoch brachte sein Blut in Wallung. Die Hirschkuh war hochträchtig, und das einjährige, männliche Kalb, das sie begleitete, war vorher durch einen flachen Tümpel gewatet und hatte Farn gefressen.
Der junge Hirsch hatte sich satt gefressen, war müde und wollte schlafen. Selbstsicherer, als ihm guttat, war er weit hinter seiner Mutter zurückgeblieben.
Klebkraut zog seine lange Schnauze in Falten und entblößte die gekrümmten Fangzähne. Der junge Hirsch würde eine leichte Beute sein. Wenn er ihn nicht an diesem Abend erwischte, dann eben in einem anderen Mond, wenn seine Mutter ihn endgültig verjagt hatte und er sich allein durchs Leben schlagen mußte, während sie sich einen sicheren Winkel im Wald suchte und ihr neues Kitz zur Welt brachte.
Klebkraut hob den Kopf. Der Wind brachte ihm den Geruch von Tod. Ein Marder hatte ein Kaninchen getötet. Er konnte die Duftdrüsen des Marders und den kräftigen Geruch von Waldkaninchenblut wittern. Es war jedoch kein frischer Fang. Es würde sich nicht lohnen, dem Marder die Beute abzujagen - das Fleisch war schon geschmacklos. Mit hängender Zunge trottete er weiter.
Mühelos sprang er über einen umgestürzten Baumstamm und bog auf einen breiten, ausgetretenen Mammutwechsel ein. Er war von seinen mächtigen, sich unter seinem schwarzen Fell bewegenden Muskeln begeistert. Was für eine Kraft und gesunde Männlichkeit! Kein Mensch würde jemals diese Macht verstehen. Er fragte sich, warum er niemals vorher überlegt hatte, ein Hexer zu werden. Es standen ihm so viel mehr Möglichkeiten offen als einem Träumer. Als Hexer konnte er der Macht befehlen, sich seinen Wünschen zu fügen, statt zulassen zu müssen, daß die Macht ihn für ihre eigenen närrischen Ziele benutzte. Träumer waren Idioten.
Als der Pfad einen steilen Hang hinabführte, ließ er alle Vorsicht fallen und begann zu rennen.
Welches Tier konnte ihn schon fangen, selbst wenn es ihn hörte oder witterte? Vielleicht ein Kurzschnauzenbär, vielleicht auch ein Löwe oder ein Säbelzahntiger. Er konnte sich nicht sicher sein, da er nicht wußte, wie schnell diese Tiere waren. Doch er kannte seine eigenen Grenzen genau. Und im Körper des Riesenwolfs konnte er mit dem Wind um die Wette laufen und gewinnen.
Klebkraut rannte den Hügel hinab und nahm einen neuen Geruch wahr. Verblüfft hielt er inne und schaute sich um. Es war der Geruch einer Frau. Und sie trug ein Baby bei sich. Mit seinen scharfen Nachtaugen konnte er sogar die Stellen erkennen, wo die Frau angehalten und die Rinde von Espen abgeschält hatte, um den weichen Bast als Saugmaterial in der Hose des Kindes zu verwenden.
Der Geruch ließ seine Muskeln erzittern. Kam diese Reaktion nun vom Wolf oder vom Menschen in ihm? Er wußte es nicht. Ein kleines, verwundbares Baby …
Seine langen, mit kräftigen Muskeln versehenen Beine schlugen auf die Erde, so daß der weiche Kiefernwaldboden im Mondlicht hinter ihm aufstob. Durch die überhängenden Äste konnte er den schwachen, silbrigen Schimmer von Alter-Mann-Oben ausmachen, obwohl er dessen Auge nicht sehen konnte. Ein kühler Wind wehte den Hang hinauf, zerzauste wie mit sanften Fingern sein schwarzes Fell und kühlte sein Blut.
Das kräftige Haar in seinem Nacken sträubte sich. Warum? fragte sich Klebkraut. Sein Wolfskörper mußte etwas wissen, das seine menschliche Seele nicht verstand. Tief unten aus seiner Kehle stieg ein leises Knurren auf.
Er blickte über die Schulter zurück und betrachtete seine Spur, witterte in den Wind. Zuckerbirke, Weide und anderes Gestrüpp verdeckten den gewundenen Pfad. Doch irgend etwas bewegte sich in dieser Richtung. Irgend etwas Schlaues und Lautloses.
Er hatte das beunruhigende Gefühl, verfolgt zu werden. Der Wind wehte vom Ozean her und trug Klebkrauts eigene, stechende Ausdünstung den Berg hinauf jedem Tier zu, das sich die Mühe machte, die Nase zu heben. Er verengte knurrend und angestrengt starrend die Augen zu
Weitere Kostenlose Bücher