Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
ein weiteres Labyrinth erkennen.
Sie hielt kurz den Atem an. War das das Labyrinth, das Wolfsträumer ihm gegeben hatte? Das gleiche, das er bei sich trug, wenn er in die Dörfer ging, um vom Mammut-Geist-Tanz zu sprechen? Es mußte so sein.
Sonnenjäger schien die Labyrinthe zu vergleichen. Er furchte die Stirn, schüttelte den Kopf und holte tief Luft. Dann beugte er sich, seinen Atem ausstoßend, wieder über das Labyrinth auf dem Boden und zog sorgfältig die alte Linie nach. Diesmal machte er die Linie ein wenig länger, so daß sie sich parallel zu einer anderen um das Innere des Kreises wand. Doch dann hielt er inne und schloß einen Moment die Augen, als wüßte er nicht, welche Richtung er einschlagen sollte.
Er stieß einen leisen Laut der Verzweiflung aus.
Und versuchte es wieder, zog den Pfad durch das Labyrinth noch einmal nach und verhielt an derselben Stelle.
Noch einmal versuchte er es.
Seine Hand zitterte so heftig, daß er das Messer beiseite legte und die Finger im Schoß zur Faust ballte.
Schließlich sah Sonnenjäger auf, als schaute er auf Turmfalke, aber sie war sich nicht sicher, ob er sie wahrnahm. Seine Augen hatten einen geisterhaften Blick, als sähe er durch sie hindurch auf etwas, das weit weg in einer anderen Welt lag. Dann wandte er ihr den Rücken zu und rollte sich wie eine schlafende Katze in der Mitte des aufgestreuten Musters zusammen. Seine Schultern zuckten. Zögernd ging Turmfalke auf Hände und Knie nieder. Er hatte ihr befohlen, ihn nicht anzusprechen, außer wenn er nach ihr riefe, aber …
Lautlos wie ein Kojote kroch sie vorwärts bis zum Rand des weißen Kreises. Als er sie hörte, hob er den Kopf, und Turmfalke sah Tränen in seinen Augen.
Sie betrat den Kreis und kniete sich neben ihn. »Sonnenjäger, was kann ich tun, um dir zu helfen?
Brauchst du etwas? Ich könnte dir etwas Tee heiß machen …«
Plötzlich schlang er die Arme um ihren Leib, und bevor sie sich's versah, hatte er den Kopf in ihren Schoß gelegt und zerrte mit den Händen verzweifelt an ihren Ärmeln.
»Ich … ich komme nicht durch«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Eine Falle, die Windung ist eine Falle.«
»Eine Falle?«
»Ständig falle ich, gehe im Kreis, kann nicht herauskommen. Spitz aufeinander zulaufende Wände lenken mich immer wieder dorthin zurück. Dann falle ich, die Dunkelheit verschluckt mich und …
verloren. Nirgendwo kann ich hingehen.«
Turmfalkes Augen weiteten sich. Er konnte nicht meinen, was er da sagte. Sonnenjäger konnte doch unmöglich den Weg durch das Labyrinth verlieren. Was würde geschehen, wenn etwas so Schreckliches sich als wahr erwiese? Überall verließen sich die Leute darauf, daß Sonnenjäger die Absichten der Geister kannte. Eiskraut hatte Turmfalke einmal erzählt, daß Vater Sonne vom Himmel fallen würde, wenn Sonnenjäger morgens nicht mehr aufstünde, um ihm seine Gebete darzubringen.
Sie blickte auf den sich in ihrem Schoß windenden, weißhaarigen Kopf nieder, und ihr Mitgefühl erwachte. Es mußte ihn sehr unter Druck gesetzt haben, ein Held zu sein. In seinem Namen lag fast so viel Macht Wie in dem von Wolfsträumer. Tatsächlich sprachen mehr Leute Sonnenjägers als Wolfsträumers Namen mit Ehrfurcht aus. Nein, er konnte den Weg nicht verloren haben. Das wäre undenkbar. Sonnenjäger hatte einfach zu viele Ameisen verschluckt. In seinem Blut war zuviel von ihrem Gift, und das hatte seine Fähigkeit zu träumen beeinträchtigt.
»Du mußt es einfach noch einmal versuchen, Sonnenjäger«, tröstete sie ihn. »Nächstes Mal wird es klappen.«
»Nein. Nicht bis ich verstanden habe. Siehst du, es geht um das Problem der Frau des unsichtbaren Kriegers, meine Leidenschaft zu sehen. Ich habe das getötet, was ich am meisten liebe und brauche.
Aber wie kann ich meine Augen aufgeben?«
Er preßte die Wange gegen ihr Kleid und wurde still. Mit seinen großen Händen hatte er ihre Hände ergriffen, dann war er wie zu Stein erstarrt. War diese Lähmung ein Teil der Ameisentortur? Er hatte ihr nicht gesagt, daß so etwas geschehen könne. Was sollte sie tun? Verwirrt legte Turmfalke eine Hand auf seine Schulter und stellte betroffen fest, daß er weinte.
Manche weinen die ganze Nacht durch …
Turmfalke wußte wenig über Männer und noch weniger über die Ameisentortur, aber sie hatte die irrationalen Ängste vieler alter Menschen besänftigt. Sie hatte die Tränen von Kindern, die sich weh getan hatten, weggelächelt. Sie streichelte
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