Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
erfüllte. Helfer wandte seine Aufmerksamkeit von Wolkenmädchen ab. Seine schwarze Nase zuckte schnüffelnd hin und her, und er gab ein Brummen von sich.
»Seit sechs oder sieben Monden habe ich kein Wildbret mehr gegessen. Seit letztem Herbst. Es riecht so gut.«
Sonnenjäger blickte auf und lächelte. »Es ist schwierig zu jagen, wenn man auf der Flucht ist. Ich könnte mir vorstellen, daß du vor allem gefischt und Fallen für Kaninchen, Erdhörnchen, Packratten und solche Tiere gestellt hast.«
»Ja, und ich habe die frischen Frühlingspflanzen gepflückt.«
Das Hirschfett war geschmolzen und hatte sich mit den dampfenden Pappelblüten vermischt.
Sonnenjäger benutzte zwei Stöcke als Zange und zog damit den Stein vom Feuer weg, so daß er auskühlen und die Salbe steif werden konnte. Das Gemisch hatte eine blaßgrüne Farbe angenommen.
Turmfalke nahm ihr Fleisch von der Glut und lehnte es mit dem Spieß zum Auskühlen an den Holzstapel. Weit draußen über dem Ozean nahm der Schneeschleier eine blaßrosa Färbung an. Daran konnte sie erkennen, daß Vater Sonne aufgegangen war. Der Himmel jedoch hatte noch immer die Farbe von angelaufenem Silber.
»Hat Wolkenmädchen die ganze Zeit, in der ich weg war, geschlafen?« fragte Sonnenjäger und betrachtete das Baby.
»Ja. Das verstehe ich nicht. Seit wir hier sind, ist sie viel ruhiger geworden. Vorher hat sie mich immer drei- oder viermal pro Nacht geweckt und wollte gestillt werden. Letzte Nacht ist sie nur einmal aufgewacht. Und dann habe ich sie direkt nach deinem Aufbruch diesen Morgen wieder gestillt.«
»Wahrscheinlich schläft sie hier tiefer. Der Rhythmus der Wellen beruhigt sie.«
»Ja«, stimmte Turmfalke zu. »Das tut er. Ich wußte, daß es so sein würde.«
Genau wie Eiskraut es vorausgesagt hatte.
Sie war den letzten Mond so von Angst erfüllt gewesen, daß sie gar nicht auf den Gedanken gekommen war, ihn zu vermissen. Aber nun, nach zwei Tagen der Ruhe und guter Mahlzeiten, fühlte sie, wie der Schmerz in ihrem Herzen wieder erwachte - genau so, wie von einem Keulenschlag betäubte Nerven von einer überwältigenden Qual durchflutet werden, wenn sie wieder zum Leben erwachen. Unwillkürlich traten ihr Tränen in die Augen.
Sonnenjäger wechselte unbehaglich die Stellung und wischte die Hände an seinen Mokassins ab.
Ruhig fragte er: »Möchtest du darüber reden?«
»Nein. Ich … ich kann nicht - noch nicht.« Verständnisvoll nickte er, während Turmfalke ihr Fleisch vom Spieß nahm. Sie aß es bedächtig und genoß den wunderbaren Geschmack. Bald waren ihre Finger mit warmem Fett überzogen. Das letzte Mal, als sie Wildbret gegessen hatte, hatte Eiskraut es ihr mitten in der Nacht gebracht. Auf das Grasdach der Hütte und in die Pfützen auf dem Pfad war trommelnd der Regen gefallen. Eiskraut hatte gelacht… Schweigend beendete sie ihre Mahlzeit.
»Ich will dir eine Tasse Tee eingießen«, bot Sonnenjäger an. »Du kannst ihn trinken, während ich mich um deine Wunden kümmere.« Ohne auf eine Antwort zu warten, stand er auf und nahm eine wunderschöne Tasse in die Hand. Sie war aus dem Hörn eines Wüstenschafs geschnitzt und mit den Bildern von Tieren, Menschen und mit Geistmustern bedeckt. Er füllte sie aus dem Kochsack auf dem Dreibein und reichte sie ihr. »Du wirst dich näher ans Feuer setzen müssen. Ich brauche das Licht«, sagte er.
Während er sich eine Handvoll der Pappelknospensalbe nahm, setzte sich Turmfalke mit untergeschlagenen Beinen an die rauchfreie Seite des Feuers. Von hier aus konnte sie nach Norden, die unregelmäßige Steilwand entlang schauen. Alle Felsbänder waren mit Schnee überzogen. Kahle Büsche ragten aus kargen Felsrissen, und hier und da kämpften tapfere Nadelbäume mit knorrigen, verschlungenen Wurzeln auf dem nackten Fels ums Überleben. In ein paar geschützten Nischen drängten sich Weißkopf-Seeadler aneinander, die Federn zum Schutz gegen die Kälte aufgeplustert.
Turmfalke fragte sich, ob sie den Mut haben würden, an diesem kalten Morgen fischen zu gehen.
Sonnenjäger kniete sich vor ihr hin. Er hatte für die Jagd sein langes, weißes Haar zurückgebunden und zu einem Zopf geflochten. Die Strähnen glänzten naß. Seine tiefliegenden, schwarzen Augen spiegelten das Licht der Flammen wider, als er ihr Gesicht untersuchte.
Sanft strich er ihr das Haar aus der Stirn und blickte besorgt auf den Messerschnitt. »In die Wunde sind böse Geister eingedrungen. Es wird weh tun.«
»Ich bin
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