Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
darauf vorbereitet.«
Als er begann, die warme Salbe aufzutragen, spürte Turmfalke, wie ihr Magen sich zusammenzog. Sie hätte eigentlich nicht zulassen dürfen, daß ein Mann sie berührte. Niemals wieder. Eiskraut ist gestorben, weil er mich berührt hat. Doch sie konnte sich nicht bewegen. Seit Wochen hatte niemand sie mit einer solchen Zartheit berührt, und sie hatte ein verzweifeltes Bedürfnis danach. Ihre verspannten Muskeln lockerten sich. Die Lunge atmete leichter. Sie wunderte sich darüber. Ihre Haut reagierte auf seine Sanftheit, als würde sie seine Berührung erkennen. Sie stellte fest, daß sie zitterte.
Unsicher stellte sie die Horntasse neben sich.
Sonnenjäger ließ die Hand sinken und sagte: »Es tut mir leid. Ich habe nicht bemerkt, daß ich dir weh tue.«
»Nein, nein, das tust du nicht. Kannst du auch etwas von der Salbe auf die Wunde in meiner Schulter streichen?«
»Natürlich.«
Sie schnürte ihr mit Muschelschalen verziertes Kleid vorne auf und entblößte die linke Schulter. Ihre glatte, braune Haut schimmerte im orangefarbenen Licht des Feuers. Sonnenjägers Blick verdunkelte sich. Turmfalke schaute nach unten. Ihr Magen drehte sich bei dem Anblick fast um. Sicher, die Verletzung hatte weh getan, aber sie hatte sich nie die Zeit genommen, sie zu untersuchen. Über der dick angeschwollenen, rot entzündeten Wunde hatte sich eine Kruste gebildet, unter deren Rändern Eiter hervorsickerte.
Sonnenjäger schaute Turmfalke besorgt an. »Vielleicht hat es nicht weh getan, als ich deine Stirn behandelte, aber dies hier wird sicher schmerzen. Beiß die Zähne zusammen!«
Turmfalke holte tief Luft. Sonnenjäger hatte kaum die Wunde berührt, da zuckte der Schmerz schon wie ein weißglühender Strahl durch sie hindurch. Um sich abzulenken, begann sie zu reden. »Wozu brauchst du die gelben Ameisen? Du hast gesagt, sie seien sehr nützlich.«
»Ich fürchte, das wirst du heute abend selbst herausfinden. Ich kann nicht mehr länger warten. Ich habe drei Tage lang gefastet. Es ist Zeit.« Er schaute ihr in die Augen. »Du kannst mir helfen, wenn du willst.«
Nachdem er sich die Ausbreitung der Entzündung genau angesehen hatte, stach er die Ränder der Wunde entlang und drückt dann den Eiter aus dem geschwollenen Fleisch. Turmfalke sog tief die Luft ein, als würde er ihr eiskaltes Wasser ins Gesicht schütten.
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich denke, das wär's.«
»Was muß ich tun, um dir zu helfen?«
Er begann eine dicke Schicht warmer Salbe aufzutragen. »Halte einfach ein Auge auf mich. Komm, wenn ich nach dir rufe. Ich habe dieses Ritual bis jetzt nie allein durchgeführt und weiß nicht genau, was vielleicht mit mir geschehen könnte.«
»Wie verläuft das Ritual? Ich meine, worauf muß ich mich gefaßt machen?«
Er verstrich den Rest der Salbe auf der Wunde und ließ die Hand dann auf sein Bein sinken. Sein Gesicht war vom Kampf widersprüchlicher Gefühle gezeichnet. Leise, als spräche er zu sich selbst, antwortete er: »Ich kann dir nicht sagen, worauf du dich gefaßt machen mußt. Ich habe viele Male zugeschaut, wie andere sich der Ameisentortur unterzogen haben, aber jeder Träumer reagiert anders auf die Macht. Manche weinen die ganze Nacht hindurch, andere winden sich auf dem Boden. Es gibt welche, die stieren nur ins Feuer. Und manchmal, Turmfalke, stirbt der Träumer.
»Haben die Ameisen so viel Macht?' fragte sie, während sie ihr Kleid zuschnürte.
»O ja. Ich habe einmal gesehen, wie ein junges Mädchen gestorben ist. Es war schrecklich. Danach hat der Talth junge Frauen von der Teilnahme an diesem Ritual ausgeschlossen.«
»Der Talth? Was ist das?«
Sonnenjäger stand auf und schaute auf sie hinunter. Die an den Fransen seiner Ärmel befestigten Muschelschalen schlugen im Wind gegeneinander. »Er ist eine Gesellschaft der Geistmacht. Eine sehr alte. Die Ältesten der Gesellschaft behaupten, daß Wolfsträumer selber der erste Schamane des Talth war. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht.« Er zuckte die Schultern und vergrub die Hände in seiner Jackentasche.
»Kannst du Wolfsträumer nicht fragen? Du besuchst ihn doch im Land der Toten. Würde er es dir nicht erzählen?«
Sonnenjägers Blick und die darin verborgene Verzweiflung erschreckten sie. »Ich …« Er schaute weg. »Ich muß bald mit den Vorbereitungen beginnen. Es stört dich doch nicht, oder?«
»Nein«, erwiderte sie und stand auf. »Sag mir, wie ich dir helfen kann.«
Klebkraut trottete
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