Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Sonnenjägers weißes Haar. »Alles ist in Ordnung, Sonnenjäger. Du wirst den Weg finden. Ich weiß es.«
»Nein, ich … ich kann nicht. Die Geister!« schrie er rauh. »Sie haben mich verlassen. Ich verstehe es nicht.«
»Warum sollten sie dich verlassen? Du bist ihr Träumer. Ihr auserwählter …«
»Nicht mehr«, unterbrach er sie. »Ich habe den Weg verloren.«
Er schloß die Arme fest um sie und zog sie mit sich zu Boden. Dort streckte er sich aus, wobei er einen großen Teil des aufgestreuten Musters verwischte. Er vergrub sein Gesicht in ihrem vollen Haar, und seine Stirn ruhte warm auf ihrer Wange.
»Ich will nicht allein sein. Bleib hier bei mir, Turmfalke«, flehte er. »Bitte, geh nicht weg!«
»Ich werde nicht weggehen«, murmelte sie, »das verspreche ich.«
Die Zeit schien stillzustehen. Turmfalke lag reglos da und spürte, wie sein schmerzhafter Griff sich lockerte und die winterlich kalte Luft über ihre nackten Beine strich.
Jedes noch so winzige Geräusch wirkte lauter als sonst - das Flüstern des Windes, das weiche Auftreffen der Schneeflocken auf dem Höhlenrand, das Klopfen ihres Herzens. Sie litt mit Sonnenjäger. Sie wußte, was Einsamkeit war, kannte die Leere, die die Seele zerfraß, bis nichts übrigblieb als eine leere Schale. Ja, die Leere, die die Menschen zu verzweifelten Handlungen trieb.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Helfer trottete herüber, ließ sich hinter Sonnenjäger nieder und legte ihm die lange, schwarze Schnauze auf die Schulter. Der Hund schaute mit seinen braunen Augen zu Turmfalke hinab. Ein räudiges Ohr hing schlaff nach unten.
Du bist in einem Traum zu Sonnenjäger gekommen. Hat Wolfsträumer dich geschickt? Kannst du Sonnenjäger nicht helfen, den Weg durch das Labyrinth zu finden?
Helfers Augen funkelten.
Turmfalke versuchte mit aller Gewalt, sich zu entspannen, aber es gelang ihr nicht. Sonnenjägers um sie gelegte Arme weckten Gefühle in ihr, die sie nie wieder hatte empfinden wollen.
Das ist, weil er solch ein großer Mann ist. Du weißt, daß du ihn nicht fürchten mußt.
In seiner Gegenwart fühlte Turmfalke sich behütet, und sie hatte sich so schrecklich lange nicht mehr so sicher gefühlt. Es drängte sie, jede Abwehr fallenzulassen, sich dem von ihm angebotenen Trost hinzugeben. Es würde ihr schon viel helfen, einfach nur in seinen Armen zu schlafen.
Nein. Das nicht. Sie konnte es nicht.
Sanft legte sie eine Hand auf Sonnenjägers Schulter und schaute auf das Schneegestöber vor der Höhle.
Unten am Strand heulte ein Riesenwolf. Es klang erschreckend und feindselig, als jagte das Tier mehr aus Enttäuschung und Wut als aus Hunger. Ein Schauer lief Turmfalke über den Rücken.
Wachsam hielt sie die Augen offen und lauschte auf bekannt klingende Schritte in der Nacht.
24. KAPITEL
Sonnenjäger drehte sich auf die Seite. Ihm war übel. Seine Wapitifelldecke rutschte über die Brust herab. Er fühlte sich schwach und verwirrt, müde bis in die Knochen. Er zitterte. Kalte Windstöße fegten durch die Höhle. Er erinnerte sich nur an wenig von der vergangenen Nacht, außer an die schrecklichen Schmerzen, die die Ameisenbisse ihm verursacht hatten, und an eine kurze Zeit der Euphorie, bevor er das Labyrinth in Angriff genommen hatte.
Und er erinnerte sich, daß er versagt hatte.
Sein Magen krampfte sich bedrohlich zusammen.
Weit unten breitete sich jenseits der dünnen Schneeschicht, die den Strand bedeckte, tiefblau das Meer aus. Von der Oberfläche der Mutter stieg Dampf auf, da das Wasser wärmer war als die Luft. Der lavendelfarbene Schimmer des Sonnenaufgangs umgab alles: Bäume, Felsen und Wellen. Über dem Wasser jagten zwei Weißkopfadler. Sie stiegen empor, stießen nach unten und glitten dann wieder mit ausgebreiteten Flügeln über die weißen Schaumkronen. Drei Riesentruthahngeier schritten auf Nahrungssuche den Strand entlang und ließen im frisch durchnäßten Sand ihre gewundene Spur zurück.
Der Sturm hatte sich gelegt. Durch die Lücken zwischen den dahintreibenden Wolken ergoß sich das Sonnenlicht. Sonnenjäger lag reglos da und versuchte, genug Kraft zum Aufstehen zu sammeln. Sein Herz schlug so wild, daß ihm davon schlecht wurde. Hinter sich hörte er leise Geräusche: das Reiben von Mokassins auf Stein, das Prasseln des Feuers, als mehr Holz nachgelegt wurde. Der Dreifuß, an dem der Kochbeutel aufgehängt war, knirschte auf dem Boden.
Sonnenjäger drehte sich auf die andere Seite, und die Übelkeit wurde
Weitere Kostenlose Bücher