Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Schläge.«
Sonnenjäger starrte nachdenklich zum Strand hinunter. Er sah das Bild, das sie mit ihrer verletzten Stimme beschrieben hatte, deutlich vor sich und konnte sich vorstellen, wie sie, jung und hübsch, immer im Schatten ihres Mannes kauerte und Angst hatte, auch nur zu atmen, weil er sonst wieder denken könnte, sie hätte etwas »Schlechtes« getan, und sie dafür bestrafen würde. Turmfalke hatte sich wohl immer mehr in ihre Seele zurückgezogen, sich von ihrer Familie und ihren Freunden abgeschnitten, um keine Fehler zu machen, die ihren Mann verärgern konnten. Und schließlich war die Einsamkeit unerträglich geworden. Damals hatte sie dann Trost bei einem anderen gesucht.
Wie sehr sich das doch von seinem eigenen Leben unterschied. Die Einsamkeit bot so viele Vorteile zum Ausgleich. Seine Freunde konnten ihm so viel über die Freuden von Weib und Kind erzählen, wie sie nur wollten. Er liebte es, allein zu sein. Nur dann konnte er die Welt um sich herum und sich selbst wirklich sehen. Die Erschöpfung, die die Nähe von Menschen für ihn mit sich brachte, behinderte ihn noch Wochen später. Ohne guten Grund sagte, gab und sorgte er sich immer zuviel. Selbst wenn eine solche Nähe nur eine kurze Zeit dauerte, brauchte sie doch seine Kraft bis zur Neige auf- bis er fühlte, daß seine Seele sich vom Körper gelöst hatte und sich in die Luft erhob, um zu entkommen.
Er stellte seine leere Tasse hin und zwang seinen Oberkörper hoch. Die Kälte biß ihn in die unbedeckte Brust. In seinem Bauch rumorte es. »O Heilige Geister«, stöhnte er. Er fürchtete, sich noch einmal erbrechen zu müssen. »Ich habe nie verstanden, was der Talth-Bund an Ameisen findet. Das letzte Mal, als ich es mit ihnen versucht habe, hatte ich die gleichen Qualen.«
»Du meinst, du konntest nicht träumen?«
»Ich meine, daß ich mich erbrechen mußte, sonst nichts.«
»Ich denke nicht, daß Ameisen für dich gut sind, Sonnenjäger.«
Er lachte und wünschte dann, er hätte es unterlassen. Turmfalke sah so ernst aus. Schlimmer war, daß ihm wieder schwindlig davon wurde. »Ich bin sicher, daß du recht hast.«
Darauf lächelte Turmfalke, und er konnte gar nicht anders als zurückzulächeln. Sie wußte es nicht, aber mit dem um ihr Gesicht niederfallenden, glänzenden, langen Haar und in seinem Mammut-Geist-Tanz Hemd, das ihr viel zu groß war, sah sie sehr hübsch aus. Sonnenjäger hatte den Verdacht, daß sie schon lange nicht mehr gelächelt hatte. Sie tat es mit einer solch kindlichen Freude.
»Sonnenjäger«, sagte sie, »ich weiß nicht besonders viel über die Ameisentortur, aber wenn in meinem Klan jemand ein Muster aufgestreut hat, so muß es am nächsten Tag weggewischt werden, oder es bringt Unglück. Kann ich das für dich tun?«
Er hob die Brauen. Niemand hatte das jemals für ihn getan. Aber so, wie er sich an diesem Morgen fühlte, konnte er es bestimmt nicht selbst tun. »Ja, wenn du das möchtest.«
»Wo soll ich anfangen?«
»Mit den roten Schlangenlinien. Du mußt auch die Stellen abwischen, wo die Farben sich vermischt haben oder ganz verschwunden sind. Tu so, als wären die Linien noch immer da. Denn sie sind noch da - in der Geistwelt. Arbeite dich von innen nach außen. Erst die Schlangenlinien, dann den schwarzen Kreis und dann den weißen.«
»In der umgekehrten Reihenfolge wegwischen, in der du sie hingestreut hast? Ja, ich verstehe.«
Sie stand auf und ging zu dem verschmierten Kreis. Zuerst breitete sie die Arme aus und sang Gebete in alle vier Richtungen, dann beugte sie sich zu Mutter Ozean hinab und hob ihr Gesicht zu Bruder Himmel. Sie beugte sich nach vorn und begann, das Muster sorgfältig mit der Hand auszuwischen.
Sonnenjäger war verblüfft. Sie mußte sich genau erinnern, wie er letzte Nacht vorgegangen war, denn sie verwischte das Muster in exakt der umgekehrten Reihenfolge, in der er es aufgestreut hatte. Und sie berührte es mit der Sanftheit einer Mutter, die das Gesicht ihres kranken Babys streichelt.
»Du magst Malereien?« fragte er.
»Malen und Färben ist meine ganze Welt. Oder war es zumindest. Beides habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Die Farben fehlen mir. Sie geben meiner Seele Leben.«
»Ich weiß, was du meinst. Mir geht es genauso.«
Turmfalke ließ nachdenklich die Finger über das eingeritzte Labyrinth gleiten. In ihren weit geöffneten Augen glänzte Ehrfurcht. Sie zog zweimal über jede Linie, als versuchte sie, sich die Windungen einzuprägen. Wie
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