Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
erkennen konnte, würde seine Anhängerschaft so stark anwachsen, daß Sonnenjäger ihn nur noch beneiden konnte. Die Leute würden ihn mit Ehrfurcht betrachten. Und bald würde er soweit sein. Schon jetzt konnte er einen gewissen Erdgeruch unterscheiden, der manchen schwangeren Frauen anhing und anderen nicht. Er nahm an, daß der Erdgeruch auf einen Sohn hinwies, aber er war sich noch nicht sicher. Er mußte abwarten, ob sich seine Vermutung bestätigte.
Klebkraut kicherte und verschränkte überheblich die Arme vor der Brust. Merkwürdig, sein ganzes Leben lang hatte er sich wie ein Opfer gefühlt, war von seinen Verwandten gequält worden, weil er anders war, weil er die Gesetze und Verpflichtungen des Klans verabscheute.
Seitdem er hexen konnte, floß eine neue Kraft in seinen Adern.
Seine Muskeln wuchsen erstaunlich schnell, und nachts sah er inzwischen so gut wie eine Katze. Er nahm an, in ein paar Monden so gefürchtet und berühmt zu sein wie der alte Kaktus-Eidechse, obwohl er natürlich niemals mit seiner Hexerei prahlen würde. Er wollte, daß die Leute glaubten, seine Macht käme vom Träumen. Träumer lebten wesentlich länger als Hexer.
Milan stand vom Feuer auf und reckte den steifen Rücken. Ruhig sagte er ein paar Worte zu seinen Brüdern, verließ sie und ging mutig direkt auf Klebkraut zu.
Der beobachtete seine Annäherung aus zusammengekniffenen Augen und hob seine Hakennase witternd in die Luft. Dieser junge Mann roch wie ein Raubtier. Klebkraut war auf der Hut.
»Ich wünsche dir einen guten Tag, Träumer.« Milan verbeugte sich respektvoll.
»Was willst du, Junge?«
Milan war von Klebkrauts barschem Ton verblüfft. »Sag mir bitte, wenn ich dich störe. Ich komme dann später wieder.«
Klebkraut winkte verärgert ab. »Nein, sprich weiter. Bringen wir es lieber gleich hinter uns. Was willst du?«
Milan verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß und blickte Klebkraut neugierig an. »Eine der alten Frauen hat mir letzte Nacht gesagt, du seist ein Träumer. Ich dachte, ich könnte vielleicht mit dir über einige deiner Visionen sprechen.« »Welche Visionen?«
Milan breitete die Arme aus und lächelte nervös. »Wie du weißt, sind meine Brüder und ich auf der Suche nach dieser Turmfalke. Hast du sie vielleicht in deinen Träumen gesehen? Oder ihren verrückten Mann, Stechapfel? Weißt du vielleicht, wo sie sind?«
Klebkraut schob die Hände in die Taschen und knirschte mit den Zähnen. »Die Träume, die ich in letzter Zeit hatte, handeln alle von entsetzlichen Dingen, die über Otter-Klan-Dorf hereinbrechen. Bist etwa du die Ursache dieser Dinge?«
»Ich?« schrie Milan überrascht auf. Er machte einen Schritt zurück. »Nein. Wie … wie sollte ich etwas damit zu tun haben?« »Schon gut. Aber paß auf, Junge! Verstanden?« Milan schluckte, und die Angst auf seinem Gesicht bereitete Klebkraut enormes Vergnügen. Milan nickte gehorsam. »Meine Brüder und ich sind nicht hierhergekommen, um euch Schwierigkeiten zu machen, Träumer. Wir wollen die Mörderin unseres Bruders finden, danach gehen wir sofort heim. Das …« »Gut, je früher, desto besser.«
Milan stand mit leicht geöffnetem Mund da. Das Sonnenlicht erhellte den Wald, und die Vögel sangen. Leuchtende Blauhäher, Goldfinken und rote Fliegenschnäpper flatterten durch die Eichenwipfel. Klebkraut hörte Melisse leise mit Sumach sprechen. Sie standen heute spät auf, aber sie hatten sich auch gestern sehr spät schlafen gelegt. Aus dem Augenwinkel sah Klebkraut, wie sie ihre Felldecken zusammenrollten.
Milan drehte sich, um Klebkrauts Blick zu folgen, und sagte: »Ich sehe, daß du beschäftigt bist, Träumer. Darf ich nach dem Frühstück wiederkommen, um mit dir zu sprechen? Vielleicht werden wir mit vollem Magen beide …«
»Du darfst. Aber störe mich nicht, wenn ich im Wald bin und Geistpflanzen suche. Diese Zeit ist mir heilig.«
»Ich verstehe.« Milan lächelte verkrampft und verbeugte sich noch einmal. »Ich hoffe, wir können später noch einmal miteinander reden. Danke.« Er drehte sich um und rannte fast zu seinem Feuer zurück. Seine Brüder empfingen ihn mit Fragen. Milan brachte sie zum Schweigen und antwortete flüsternd, während er zu Klebkraut hinübersah.
Klebkraut seufzte und schnupperte, um festzustellen, welches Fleisch es heute zum Frühstück gab.
Vielleicht würde er sich der Familie der alten Yuccadorne anschließen. Sie rösteten ein Stachelschwein über dem Feuer, und es duftete
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