Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
sein, irgend jemandem zu helfen.«
»Junge ist ein Feigling.«
.Zu jung…«
»… man kann nicht erwarten, daß er irgend etwas Wichtiges weiß… Verstehe nicht, warum Mann ihn auserwählt hat. Junge, ein Träumer? Lächerlich!«
Der Junge zog sich in sich selbst zurück und betrachtete sein inneres Licht, das weiß strahlte. »Ich bin dazu in der Lage. Doch, das bin ich.«
»Wirklich, Junge?« rief der Mann leise aus dem tiefschwarzen Leib der Dunkelheit heraus. Seine Worte fielen um den Jungen herum wie eine Handvoll Sternenstaub. »Es ist sehr schwer, ein Träumer zu sein. Schwerer, als du dir jemals vorstellen kannst. «
Der Junge stieß zitternd den Atem aus. Ich bin dazu in der Lage, Mann. Ich… ich würde nur gerne wissen, was ich in diesem toten Körper vollbringen soll. Was ist meine Aufgabe, Mann? Wie soll ich mit diesem boshaften Menschen umgehen?«
»Sag ihm, was er wissen will.«
Der Junge furchte die Stirn. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Mehr als alles andere möchte er wissen, wo meine Mutter ist. Verlangst du etwa von mir, daß ich meine Mutter verrate, Mann?« fragte der Junge entsetzt. »Verlangst du das wirklich?«
Plötzlich verstummten all die leisen Unterhaltungen, die durch die Dunkelheit gedrungen waren.
Manche Sterne blinzelten und zerbarsten, während andere zu nichts zusammenschrumpften. Hinter allem kreisten Spiralen mit toten Dörfern unerbittlich auf ihrer Bahn.
,Mann! Mann, bitte antworte mir! Ich muß die Antwort auf diese Frage wissen. Ich kann meine Mutter nicht verraten. «
Ist das deine größte Furcht?«
»Ja, natürlich. Sie ist meine Hoffnung, meine einzige Hoffnung. «
»Dann hast du deine Frage schon selbst beantwortet, Junge. Habe ich dir nicht gesagt, daß jeder Träumer dem, wovor er sich am meisten fürchtet, gegenübertreten muß, bevor er die Welt wieder ins Gleichgewicht zurückträumen kann?«
25. KAPITEL
Klebkraut wanderte mit tief in den Taschen seines schweren Wapitiledermantels vergrabenen Händen ziellos am Rand des Lagers auf und ab. Die fellbesetzte Kapuze hatte er über die Ohren gezogen.
Weiter unten war die Wiese von Nebel bedeckt, der sich um die Baumstämme herum verdichtete. In den Vorbergen war in der Nacht eine grimmige Kälte ausgebrochen, doch nicht eine einzige Wolke trübte das durchscheinende Blau des frühmorgendlichen Himmels. Im Gras ertönte das monotone Zirpen der Grillen, und in der ruhigen Luft schimmerte ein tanzender Mückenschwarm. Der Duft taufeuchter Erde erfüllte die Berge. Wenn nicht später noch ein Sturm aufzog, würde der Tag bestens dazu geeignet sein, Baumstämme für Zeltpfosten zu schlagen und die Löcher zu graben, um die Pfosten hineinzusetzen. Nicht, daß das Klebkraut besonders interessierte. Er war ein Träumer, nicht jemand, der solch niedrige Arbeiten verrichtete.
Er beobachtete die Leute, die an den prasselnden Feuern ihr Frühstück zubereiteten. Sie hatten einen Tag harter Arbeit vor sich, denn neue Zelte mußten gebaut und eingerichtet werden. Die meisten Kinder schliefen noch, aber zwei Jungen - Kleeblatt und Kleiner Welpenschwanz - spielten ein Würfelspiel mit Walnüssen, die auf einer Seite schwarz und auf der anderen weiß bemalt waren.
Welpenschwanz schrie jedesmal schrill auf, wenn beide Nüsse Kleeblatts mit der weißen Seite nach oben liegenblieben. Dann begannen sofort die Hunde aufgeregt zu bellen und liefen los, um den Pfad hinabzuspähen.
Die Brüder, die um Mitternacht angekommen waren, saßen dicht um ein kleines Feuer westlich des Lagers. Milan, der älteste der Brüder, schaute immer wieder nachdenklich zu Klebkraut hinüber, als wollte er zu ihm gehen und mit ihm sprechen, habe aber noch nicht den Mut dazu. Wahrscheinlich hatte Milan in der Nacht bemerkt, mit wieviel Ehrerbietung und Rücksichtnahme Klebkraut von allen behandelt wurde.
»Nun, mein Junge, du hast völlig recht, dich vor mir zu fürchten«, flüsterte Klebkraut. »Ich habe mehr Macht, als du je verstehen wirst.«
Er hatte inzwischen festgestellt, daß er sogar anders sah als früher. Selbst in menschlicher Gestalt betrachtete er nun die Menschen mit den Augen eines beutehungrigen Raubtiers. Er konnte die Menschen an ihrem unterschiedlichen Geruch erkennen. Schwangere Frauen hatten einen besonderen Moschusgeruch. Es war leicht, sie zu ermitteln, selbst wenn sie noch gar nichts von ihrer Schwangerschaft wußten. Wenn er erst einmal soweit war, daß er das Geschlecht des Ungeborenen am Geruch der Mutter
Weitere Kostenlose Bücher