Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
zu helfen, damit er beschäftigt war, während Melisse Berufkrauts geflüsterte Anschuldigungen überprüfte. Nicht, daß er seinem Enkel nicht geglaubt hätte. Aber solche Dinge verlangten Takt, sorgfältige Untersuchung zur Erhärtung der Beweise und großen Mut.
Ein paar rot berstende Sterne und zwei blaue Wellenlinien zierten das Äußere der Zelte, mehr war nicht geschehen. Hätte Sumach die Malereien selbst entworfen, wären die Zelte inzwischen prächtig dekoriert.
Melisse stieß schaudernd den Atem aus. »Wir dürfen nichts davon erwähnen. Gegenüber niemandem noch nicht. Versteht ihr mich beide?«
Balsam nickte und biß sich auf die Lippen.
Berufkraut fröstelte und rieb sich nervös mit der Hand über den Arm. »Ja, Großvater. Aber wie lange sollen wir warten, bis wir etwas unternehmen? Wir können nicht zulassen, daß das so weiter geht.«
Melisse schaute in das Jungengesicht mit den dunklen Augen und sah einen zutiefst besorgten Mann.
»Nein, das können wir nicht. Aber vergiß nicht, daß er Anhänger hat. Und allen ist bekannt, daß ich ihn nicht mag. Wir müssen auf eine gute Gelegenheit warten, bevor wir ihn anklagen. Hexerei ist etwas sehr Gefährliches. Handeln wir unbesonnen oder zu früh, so könnte eine Katastrophe die Folge sein.
»Wie lange, Großvater? Wie lange kann Sonnenjäger warten?«
Melisse schüttelte den Kopf. »Nur Mammut-Oben weiß die Antwort auf diese Frage. Wir müssen beten, daß Sonnenjäger diesen schrecklichen Angriff abwehren konnte.«
Berufkraut bewegte sich unbehaglich. »Und wenn ihm das nicht gelungen ist?«
Melisse kniff den Mund zusammen. »Dann müssen wir die Sache schnell zu Ende bringen.«
»Was ist, wenn …« Berufkraut und Balsam tauschten einen verängstigten Blick, und Berufkraut suchte die Bäume und den Himmel ab. »Großvater, was ist, wenn Klebkraut gelernt hat, sich in einen Kondor zu verwandeln? Oder in andere Tiere. Wie wird sich das auswirken, wenn wir ihn der Hexerei anklagen?«
Melisses Brust fühlte sich an, als läge ein Granitbrocken darauf und verwehrte ihm das Atmen. Er legte die Arme um seine beiden Enkel. »Dann haben wir größere Schwierigkeiten, als wir denken. Viel größere.«
Die Sonne war durch die Öffnung im Horizont geschlüpft und hatte das Land der Toten betreten, aber ein Hauch von ihrem Glanz lief noch auf der Meeresoberfläche hin und her und färbte die Wolkenflecken rot, die wie Staub auf dem Dunkelblau des Himmels lagen. Tannin hatte den Atlatl in beide Hände genommen und sah zu, wie Stechapfel das Otter-Klan-Dorf plünderte. Sein Bruder knurrte boshaft und zertrat eine schöne, perlmuttfarbene Haarnadel mit dem Fuß. Dann bückte er sich, hob einen aus einer Muschelschale gefertigten Atlatlhaken auf und steckte ihn in seine Hemdtasche. In Stechapfels verblaßten Augen schwelte die Wut. Er trat gegen die verstreuten Überreste der Zeltrahmen aus Walknochen und sprach grimmig murmelnd mit sich selbst. Tannin stieß den Atem aus.
Kalte Windstöße fegten raschelnd durch das dichte Tannenwäldchen, das sich entlang der Küste hinstreckte. Schiefergraue Wellen donnerten als weiße Brecher gegen den Sand. Kreischend, flatternd und mit neugierig geneigten Köpfen kreisten die Möwen über der Brandung. Zwei Dutzend der Vögel saßen auf den riesigen Mammutkadavern, die mitten in dem zerstörten Dorf lagen. Streifen schimmelnder Haut klebten noch an den Skeletten, aber das Fleisch war schon längst von Raubtieren abgefressen worden. Tannin fragte sich, was wohl diese riesigen Elfenbeinstoßzähne einbringen würden, wenn man sie den richtigen Leuten verkaufte. Stechapfel mußte es wissen, aber Tannin wagte nicht, ihn zu fragen. Tannin befürchtete, daß jedes Wort von ihm bei Stechapfel einen Wutausbruch auslösen könnte.
Stechapfel stampfte durch den Sand und zerrte einen langen Pfahl aus einem Haufen trockener Äste.
Er prüfte, ob er stark genug war, und stieß ihn dann in eine der Grabstätten in den Bäumen.
Heilige Mammut-Oben …
Stechapfel hebelte die Bahre aus dem Baum. Der halbverfaulte Körper fiel schlaff in den Sand, Maden und Grabbeigaben purzelten in einem wilden Durcheinander um ihn herum.
Tannin starrte ungläubig mit angehaltenem Atem auf Stechapfel. In seinen Adern rauschte die Furcht.
»Stechapfel, nein, nein!«
Ohne auf ihn zu achten, warf Stechapfel noch eine Bahre aus den Bäumen. Der Körper eines kleinen Mädchens stürzte mit dem Kopf voraus auf den Boden.
Tannin blieb der Mund vor
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