Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
beiseite, das feucht an den Wangen klebte. »Und dies hier ist auch nicht deine Schuld.«
Doch in der Tiefe ihrer Seele erinnerte sich Turmfalke an das Flüstern einer rauhen Stimme: »Wenn ich dich jemals bei einem anderen Mann finde, werde ich dich töten. Du kannst mir nicht entkommen.
Niemand kann dich beschützen. Eines Tages werde ich dich verwundbar finden, und dann werde ich dich töten.«
Sonnenjäger legte einen Arm um ihre Schulter und drehte sie auf den Rücken. Er schaute auf sie hinunter.
Turmfalke überlief ein Schauer, als er zärtlich ihre nackte Seite entlangstreichelte. In seinen Augen sah sie Verlangen und eine Widerspiegelung ihrer eigenen Gewißheit, daß dies niemals geschehen sollte.
Tannin lief über den bei jedem Schritt einsinkenden Sand. Stechapfel hatte die Führung übernommen, und nun war er drei Körperlängen voraus. Sein grauer Zopf schlug wie eine Peitsche auf den Rücken seines verschmutzten, bockledernen Hemdes und trieb ihn weiter voran.
Sanft gewellte grüne Hügel erhoben sich im Osten, wo Morgenrötekinds goldene Glut gerade die Spitzen der höchsten Tannen berührte. Im Westen war das Meer fast unbewegt. Die Wellen streichelten leise murmelnd die Küste. Kojoten kläfften und heulten dem neuen Tag entgegen.
Tannin konzentrierte sich auf seine Füße.
Stechapfel hatte ihn sehr getrieben. Sie hatten tags zuvor gegessen und nur wenig geschlafen, waren durch den Schnee gelaufen, bis sie auf eine felsige Küstenstrecke stießen, wo sie ständig stolperten und fielen. Stechapfel war widerwillig mit einem Halt einverstanden gewesen. Dennoch hatte Tannin in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan.
Lange vor Sonnenaufgang war er von Stechapfel geweckt worden. Schweigend hatten sie ihre Felldecken zusammengerollt und waren durch das vage Licht des frühen Morgengrauens gelaufen.
Auf dem Strand hatte Schnee gelegen, und über ihrem Kopf hatten die Sterne geleuchtet.
Tannins Magen knurrte. Der Hunger schwächte ihn. Er lief schneller und holte seinen Bruder ein, aber Stechapfel warf ihm noch nicht mal einen Blick zu. Er spähte mit zusammengekniffenen Augen die gewundene Küstenlinie entlang wie ein Wolf auf einer frischen Schweißfährte.
»Stechapfel«, sagte Tannin, als sie durch den fleckigen Schatten eines Wäldchens rannten. Ein kräftiger Geruch von schmelzendem Schnee und Hartriegelblüten lag in der Luft. »Laß uns rasten und essen. Ich bin sicher, die von der Flut zurückgelassenen Teiche wimmeln von Meeresschnecken.
Vielleicht sogar ein paar Seeohrschnecken.«
»Du bist schwach geworden, mein Bruder. Früher konntest du tagelang mit leerem Magen laufen.«
»Ich bin nicht mehr so jung wie früher, Stechapfel.«
Stechapfel zeigte nach vorn. »Wir werden bei dem Dorf direkt hinter dieser Erhebung anhalten.
Jemand wird uns etwas zu essen anbieten. Und wir werden erfahren, wo wir sind.«
»Was für ein Dorf?« Tannin hielt eine Hand als Schirm über die Augen und suchte die Gegend ab.
»Es ist da. Glaub mir. Siehst du die Spitzen dieser struppigen Espen? Dort in der Nähe.«
Stechapfel beschleunigte seinen Schritt und zwang Tannin, so schnell zu laufen, wie er nur konnte.
Tannin haßte diese Hetze im Sand. Sie schwächte seine Muskeln wie das Gift der unter Felsen lebenden glänzenden schwarzen Spinnen. Ja, das war es, Gift aus der Dunkelheit.
Als dieser Gedanke in seine Seele schlüpfte, konnte er nicht anders: Er mußte auf seines Bruders Rücken schauen.
Während sie durch das flache Meerwasser watend um den Fuß der Erhebung bogen, kam das Dorf in Sicht. Tannin sah Stechapfel überrascht an.
»Woher wußtest du, daß es da ist?«
»Ganz einfach, Bruder: Nachtschwalbe sagte, das Walbarten-Dorf läge genau drei Tagesmärsche südlich des alten Otter-Klan-Dorfes. Ich nahm an, daß Nachtschwalbe das Marschtempo eines Händlers meinte. Deswegen habe ich dich angetrieben. Ich wußte, daß wir es in der Hälfte der Zeit schaffen würden, wenn wir uns beeilten.«
Tannin schaute sich das Dorf an. Fünfzehn mit Häuten bedeckte Zelte standen in einem zum Meer hin offenen Halbkreis am Fuße des Hügels. Drei Frauen hielten sich bei den Kochfeuern auf, ein paar Kinder spielten am Rand des Wassers, aber nur vier Männer saßen im Sand des Dorfplatzes. Es sah so aus, als spielten sie ein Spiel mit Muschelschalen, denn der Mann in der Mitte hatte drei Muscheln in einer Reihe hingelegt.
Es war jedoch kein Gelächter zu hören, keine Unterhaltung, und von den Kindern
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