Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Turmfalke gebadet und ihr nasses Haar hinter die Ohren zurückgestrichen. Das betonte ihr schönes Gesicht und ihre vollen Lippen. Abgesehen von der Narbe auf ihrer Stirn sah sie wie ein Kind aus. Ihre schmale, kleine Gestalt und ihre kindliche Art, sich zu bewegen, ließen ihre innere Kraft nicht erkennen. Ein Kind? Er erinnerte sich sehr gut, daß sie in der vergangenen Nacht eine Frau gewesen war. Wenn er nur daran dachte, prickelte wieder seine Haut.
Fröhlich schwang sie beim Laufen den Sack. Helfer folgte ihr auf den Fersen. Die Muschelschalen auf ihrem Kleid funkelten prächtig. Wolkenmädchen saß in ihrem Kaninchenfellsack auf der anderen Seite des Feuers. Sie war im Halbschlaf und saugte schmatzend an ihrem neuen Schnuller aus Packrattenfell.
Turmfalke lächelte Sonnenjäger an. Sie kniete vor dem Feuer nieder und schüttete die Muscheln in den Kochbeutel am Dreifuß. Mit den Blicken überflog sie das Lager und bemerkte: »Es sieht so aus, als hättest du schon alles gepackt.«
Sie wirkte so zwanglos, so ruhig. Aber sie hatte natürlich auch viel mehr Erfahrung mit dem Morgen nach dem Liebesakt als er. Er fühlte sich ungeschickt und unsicher, seine Gedanken waren noch immer von der Süße der letzten Nacht in Beschlag genommen. Lächelnd erwiderte er: »Beinahe. Nach dem Frühstück müssen wir noch das Geschirr einpacken und unsere Bündel fertig machen. Dann können wir aufbrechen.«
»Aber wohin gehen wir? Das ist die Frage.«
»Den Strand entlang. Das Walbarten-Dorf ist ganz in der 'Nähe. Wir werden dort anhalten. Vielleicht hat Melisse ihnen Bescheid gesagt, wo er hingegangen ist.«
Turmfalke nahm mit zwei Hölzern einen großen heißen Stein vom Rand des Feuers weg. Behutsam ließ sie ihn in den Kochbeutel fallen. Der Dampf wallte so heftig auf, daß sie mit weit geöffneten Augen zurückzuckte. Der Stein zerbarst mit einem Krachen so laut wie Donnergrollen. »Dieser Stein war viel heißer, als ich dachte. Ich hoffe, er macht den Kochbeutel nicht kaputt.«
»Das wäre auch nicht schlimm. Die Muscheln sind sicherlich gar, bevor das Wasser herausgelaufen ist«, bemerkte er gleichmütig.
»Das ist sicher richtig.« Sie lachte mit funkelnden Augen.
Der kindlich-fröhliche Klang wärmte etwas Altes und Kaltes in seiner Seele. Mit seinem ganzen Herzen in den Augen schaute er zu Turmfalke hin. Sie hatte die Hände hinter sich auf den Boden gestützt, das Haar hing ihr wild zerzaust über die Schulter. In dieser Stellung wirkten ihre milchschweren Brüste noch größer. Es waren dieselben Brüste, die sie in der Glut des Liebesaktes gegen ihn gepreßt hatte.
»Du siehst heute morgen sehr schön aus«, sagte er.
Turmfalke sprang auf, lief zu ihm und küßte ihn heftig. Dann drehte sie sich um und rührte im Kochbeutel, bevor er sich auch nur bewegen konnte. Sie legte noch zwei Steine in den Beutel, diesmal kleinere, und sah Sonnenjäger liebevoll an.
Er lächelte und schüttelte den Kopf.
Heilige Geister, wie fremd ihm das alles war. O ja, er hatte schon mal eine Frau geliebt. Das war jetzt zehn Jahresumläufe her. Sie hatte Mistel geheißen, es überraschte ihn jedoch, daß er sich überhaupt an ihren Namen erinnern konnte. Sie hatten zwei Monde lang eine leidenschaftliche Beziehung gehabt. Er hatte Mistel jede Faser seines Herzens gegeben, aber sie hatte seine Seele verlangt. Doch die konnte er niemandem geben. Nur die Macht hatte Anspruch auf seine Seele. Noch immer war ihm die Erinnerung unangenehm, wie er sich mit Mistel hingesetzt, ihre Hand ergriffen und sich dafür entschuldigt hatte, Versprechen gemacht zu haben, die er nicht halten konnte. Sie hatte ihn vor Wut geschlagen, bevor sie schreiend zum Zelt ihrer Mutter zurückgerannt war. Gute Feder hatte zutreffend bemerkt: »Daß sie dich zum Träumen treibt, ist wahrscheinlich das einzig Gute, was dieses Mädchen in seinem ganzen Leben fertigbringen wird. Zeige ein wenig Dankbarkeit. Vergiß, was für eine Närrin sie ist.«
Und das mußte er wohl getan haben. Er konnte sich nicht einmal mehr richtig erinnern, wie Mistel ausgesehen hatte …
Der Dampf webte ein Spitzenmuster um Turmfalkes Gesicht. Und wenn Sonnenjäger auch so alt wie Mutter Ozean wurde, niemals würde er Turmfalkes kindliche Schönheit vergessen.
»Weißt du«, sagte Sonnenjäger, »diese großen Muscheln kann man im Sommer nicht sammeln.«
»Nein? Warum nicht?«
»Sie ernähren sich von kleinen, giftigen Tierchen. Es scheint den Muscheln nichts auszumachen, aber
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