Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
läßt er mich in dem Augenblick gehen, in dem er mich sieht.« Sie reckte den Kopf. War das eine Gelegenheit? »Ein Gewinn für jeden Mann? Was ist mit dir, Mondnarbe? Du wärst kein übler Mann für eine Frau wie mich. Du hast starke Schultern und bist auch kein Feigling.«
Mondnarbe blickte auf den Pfad, der zum Dorf führte. Es waren immer noch Schreie zu hören. Er setzte sich wieder, Argwohn in seinen schwarzen Augen. »Was redest du da?«
»Du und ich. Nur wir beide.«
Mondnarbe grinste. »Gleich hier? Bevor sie zurück sind?«
»Nein, Dummkopf! Ich rede davon, daß wir uns davonmachen, du und ich. Daß wir uns in eins der Kanus setzen und flußabwärts paddeln.« Sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln. »Und dann, Mondnarbe, haben wir alle Zeit der Welt, um festzustellen, was für ein Mann du bist…«
Er zögerte, doch da war wieder dieser lüsterne Ausdruck, den sie schon kannte.
»Du und ich«, stachelte sie ihn auf. »Wenn du den Mut hast, einen Gewinn wie mich zu genießen.«
Und sowie du mir den Rücken zukehrst, schlag ich dir mit dem Eichenpaddel den Schädel ein!
Mondnarbe verzog das Gesicht. Sie sah, wie Begierde und Verstand in ihm miteinander kämpften. Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte: »Nein. Dafür ist mir mein Leben zuviel wert.«
»Ach, komm, dein Leben. Die fangen uns doch nie.«
Mondnarbe spuckte ins Feuer. »Das verstehst du nicht. Wolf der Toten würde dich finden, und dann findet er auch mich. Er schlitzt mir den Bauch auf und läßt meine Eingeweide rausquellen. Und so läßt er mich verrecken. Du kennst ihn nicht. Er verwandelt sich in einen Wolf und wittert uns. Du kannst nicht wegrennen, nicht vor Wolf der Toten.«
»Doch, ich weiß, daß wir das können«, beharrte Perle. Aber sie wußte, daß sie verloren hatte. Früher hätte sie vielleicht eine Chance gehabt, denn Mondnarbes Begierde war viel stärker als die ihrer anderen Bewacher. Jetzt allerdings hatten sich sein Verlangen und sein Mut wie Rauch im Wind aufgelöst.
Als Perle ihn anschaute, vermied er ihren Blick.
»Es ist nicht zu spät«, sagte sie mit Nachdruck. Sie wollte noch nicht aufgeben.
Mondnarbe warf ihr einen warnenden Blick zu. »Weiter unten am Fluß hätte mich das vielleicht gelockt. Du wärst genau die Frau für einen Krieger. Aber jetzt, wo wir Wolf der Toten so nahe sind, nicht mehr. Weil ich dich begehre, will ich dir einen Rat geben, Frau. Lauf nicht weg von ihm. Wenn du ein angenehmes Leben bei ihm haben willst, dann ordne dich ihm unter, tu alles, was er will.«
»Und wenn ich das nicht tue?«
»Vielleicht zieht er dir dann die Haut ab, aber immer nur eine Handbreit. Vielleicht verbrennt er dich, aber immer nur ein Stückchen pro Tag. Vielleicht schneidet er deinen Körper an verschiedenen Stellen auf und setzt dir Maden ein. Er wird sich schon schreckliche Sachen ausdenken, um dich langsam zu töten.«
Schwarzschädel saß am Feuer im kleinen Haus von Eulenauge, und eine unangenehme Ahnung stieg in ihm auf.
Seit Beginn dieser wahnsinnigen Reise peinigten ihn täglich böse Vorahnungen. So weit flußaufwärts flüsterten ihm nachts böse Geister ins Ohr. Die Geister seiner Ahnen waren weit weg, gesichert in der Stadt der Toten. Und seit er diese Stadt verlassen hatte, konnten sie ihn nicht mehr schützen.
Wie war er bloß zu solch seltsamen Leuten gekommen? Zu Männern, die der Sitte folgend ihre Cousinen heirateten? Er hatte natürlich davon schon gehört, Händler brachten solche Geschichten mit - aber so etwas mit eigenen Augen zu sehen, war etwas ganz anderes! Aber es gibt vieles, was du nicht weißt.
Er verdrängte diese Gedanken. Ein Krieger braucht nur Disziplin, Stärke, Mut und Pflichtgefühl.
Zu seiner Rechten saßen Otter und Eulenauge und sprachen über eine Skizze, die sie in die Asche auf dem Boden gezeichnet hatten. Zur Linken hockte reglos der Verdreher. Aber er beobachtete Otter mit gespannter Neugier und großer Aufmerksamkeit. Im Hintergrund stillte eine anmutige und zarte junge Frau, Eulenauges Weib, einen Säugling. Die Anwesenheit der hochrangigen Besucher schien sie einzuschüchtern. Als sie das Baby in die Wiege legte, wanderten ihre großen braunen Augen von einem zum andern.
Schwarzschädel betrachtete das Netzwerk der verflochtenen Schößlinge und Zweige, aus denen die Hütte gebaut war. Er wurde die Vorstellung nicht los, daß er irgend etwas falsch gemacht hatte.
Alles hing mit dem Morgen zusammen, an dem er diese Krähe getötet
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