Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
weiter. Die einflußreiche Gesellschaft der Krieger wies ihre Zöglinge in die Technik der Verteidigung ein und vermittelte ihnen strategisches und taktisches Vorgehen.
Die größte aber war die Sternengesellschaft, die den Himmel beobachtete und die Sternenbahnen aufzeichnete. Die nächstgrößte war die Gesellschaft der Baumeister, die ihre Himmelsbeobachtungen auf der Erde nachschufen. Untereinander stimmten die Baumeister den Bau großer Erdwerke ab - jedes eine Widerspiegelung der heiligen Formen am Himmel. In Sternhimmelstadt dienten alle großen Erdwerke spezifischen Funktionen im Generalplan. Im Großen Ring mit dem zentralen Vogelhügel wurde der aufsteigende Mond an seinem höchsten Punkt am nordöstlichen Himmel registriert, auf den linearen Dämmen der Auf- und Untergang der Sonne an Tagen der Sonnenwende und der Tagundnachtgleiche. Das Observatorium auf der Westseite des großen Achtecks war auf den Punkt am Horizont ausgerichtet, an dem die Sonne der Sommersonnenwende aufging.
Von den Langschädeln hatten sie den Großen Ring übernommen, der häufig zusammen mit der quadratischen Form ihrer eigenen Tradition verwendet wurde. Der Ring - oder Kreis - so sagte es die Legende, stellte den Himmel dar, und das Quadrat die Erde mit ihren vier Ecken.
Mit Hilfe von Stöcken und Schnüren legten die Baumeister die Umrisse fest. Die Ausmaße wurden exakt eingehalten, indem man Knoten in den Schnüren zur Bestimmung von Entfernungen verwandte.
Steine wurden in Reihen ausgelegt, um die Berechnungen zu überprüfen; so konnten Fehler noch vor der Errichtung der Erdwerke während der Zeremonien im Hochsommer korrigiert werden. Dann kamen auch Mitglieder benachbarter Clans hinzu, nachdem sie die Ernte von Hundskamille und Sumpfholunder eingebracht hatten. Zur Zeit der Sonnenwende waren Männer, Frauen und Kinder zwei Wochen lang damit beschäftigt, mit Grabstöcken Erde auszuheben, sie in Eimer zu füllen und sie auf den Steinreihen auszukippen. Nach dem Zweck des Erdhügels richtete sich auch die Art der Erde.
Alles war bis in die letzte Einzelheit geplant.
Jahr für Jahr schritt das Werk voran; innerhalb der Gesellschaft gab eine Generation ihr Wissen an die nächste weiter.
So war auch die Heilige Straße angelegt worden. Sie verlief nach Süden, umging Anhöhen und führte zu den großen Anwesen des Clans auf den Sonnenhügeln.
Sternmuschel fror, und sie legte die Arme um ihren Oberkörper, um sich zu wärmen. Es gab zwar andere Wege, die die Clans der Plattformpfeifen mit den größeren Siedlungen verbanden, aber keiner war so beeindruckend wie die Heilige Straße.
Der kleine Lange Mann folgte Sternmuschel mit seinem sonderbar wiegenden Gang. Er trug zwei Bündel. Das kleinere, kreuzweise um die Schulter geschlungen, hing unter seinem rechten Arm. Es bestand aus fein gegerbtem Leder, war mit einem Wolfsmotiv verziert und prall gefüllt.
Das zweite Bündel hing auf dem Rücken des Zwergs; er benutzte es als Kissen, wenn sie rasteten. Es war aus prachtvoll gefärbtem Stoff mit geometrischen Mustern.
Zu Sternmuschels Überraschung kam der runzlige Zauberer trotz seines Alters und seiner kurzen Beine gut voran. Doch verriet der erschöpfte Ausdruck seines Gesichts, wie sehr ihn dieser Marsch anstrengte.
Um Obdach brauchten sie sich nicht zu sorgen, denn Reisende, besonders Händler, waren bei den Clans immer willkommen, bekamen eine warme Mahlzeit und einen Platz im warmen Clanhaus.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Langer Mann schwer atmend und schaute zum Himmel, der sich verdüstert hatte. »Wir sind im Land des Zürgelbaumclans. Das Clanhaus steht unten im Tal.«
Sternmuschel schaute gleichfalls zum dunkelgrauen Himmel empor. Schneeflocken fielen und schwebten auf die schon weiße Erde.
»Warum bist du mitgekommen?« fragte sie.
»Weil du mich brauchen wirst.«
»Aber du sagst mir nicht, warum?«
»Junge Sternmuschel, es gibt Zeiten, in denen man nicht zu viele Fragen stellen sollte. Ich mache mir Sorgen über die Leute der Plattformpfeifen. Sie müssen alles genau abmessen und untersuchen. Ich habe die Geister flüstern hören. Sie staunen und wundern sich über das, was die Menschen tun.«
»Vielleicht ist das das Schöne, wenn man tot ist - alles zu sehen, ohne sich aufzuregen.«
Er sog die Luft ein. »Und wieso glaubst du, daß sich die Geister nicht mehr aufregen? Glimmervogels Großvater quält ihn aus eben diesem Grund. Er kennt die Macht der Maske. Aber erst als die Macht ihn fallen
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