Vorzeitsaga 07 - Das Volk der Blitze
einer Ausgestoßenen auf sich zu nehmen, ja.«
»Wäre es eine schlimme Strafe?«
Mondschnecke hob eine Schulter und strich sich den Saum ihrer fahlgrünen Tunika glatt. »Das glaube ich nicht. Der Rat würde an die Verruchtheit deiner Mutter denken und ihn mit einer kleinen Strafe laufen lassen. Zum Beispiel mit dem Abschneiden aller Knoten von den Speerschäften, einen Mond lang oder zwei.« Sie streckte die braunen Hände weit aus. »Oder aber der Rat könnte dafür stimmen, ihn gleichfalls auszustoßen. Es hinge viel davon ab, wie reumütig er wäre. Wenn er auf Händen und Knien ins Lager gekrochen käme und um Verzeihung bäte, das würde ihm sehr nützen.«
Rotalge biss sich auf die Lippe und stieß die Beeren in ihrer Handfläche mit dem Zeigefinger herum.
»Und Biberpfote? Ist er für immer weg?«
Mondschnecke schaute zum Strand, wo Wasserträgerin mit ihren Kindern kniete und die Frühstücksschalen mit Sand sauber schrubbte. Der kleine Robbenschwanz hatte fünf Tage lang immer mal wieder geweint. Seit dem Morgen, da er nach dem Aufwachen seinen Vater nicht mehr sah, war er wie ein heimatloses Gespenst durchs Dorf gewankt. Wasserträgerin schien genau so unglücklich. Die arme Frau liebte Biberpfote mit einer Treue, die man heutzutage kaum noch kannte. Als der Rat sie geladen und ihr vom Ehebruch ihres Mannes berichtet hatte, war sie in Wut geraten; dem ganzen Dorf hatte sie schreiend seine Unschuld verkündet - er sei einfach zur Jagd gegangen und würde bald zurück sein. Als dann alles ans Licht kam, hatte sie ihre Kinder von einer Ältestenhütte zur nächsten geschleppt und versichert, dass sie ihn ungeachtet all seiner Taten liebe und zurückhaben wolle. Die Kinder an ihrer Seite hatten weinend nach ihrem Vater verlangt. Die Hingabe von Wasserträgerin hatte alle gerührt.
»Das kann ich wirklich nicht sagen«, erwiderte Mondschnecke. »Wenn er es fertig bringt, sich aus den Klauen von Schwarzer Regen zu befreien, würde Wasserträgerin ihn bestimmt mit Wonne wieder aufnehmen. Der Rat wäre sicher auch nachsichtig, davon bin ich überzeugt, schon weil ihn seine Familie so liebt.«
»Ich hoffe, er kommt heim«, sagte Rotalge stirnrunzelnd.
Mondschnecke betrachtete sie aufmerksam. »Halte dich bloß nicht für schuldig. Als Mitglied dieses Clans war es deine Pflicht, die Ältesten zu verständigen, bevor sein Verhalten zum Skandal geworden wäre und uns alle betroffen hätte.« Mondschnecke legte ihr eine Hand auf den Kopf. »Wenn du mir nicht gesagt hättest, was du gesehen hast, dann hätte ich dich mit einer Weidengerte grün und blau geschlagen.«
Rotalge lächelte ungläubig; sie glich ihrem Großvater so sehr, dass es Mondschnecke ganz warm ums Herz wurde. »Großmutter«, sagte Rotalge, »du hast mich überhaupt nur einmal zu schlagen versucht, und das war ein Hieb aufs Schienbein mit deinem Wanderstab.«
»Wieder ein Fehlurteil von mir. Ich war immer zu nachsichtig mit meinen Kindern. Hätte ich Schwarzer Regen mit einer Weidengerte gezüchtigt, dann wäre aus ihr vielleicht doch noch ein anständiger Mensch geworden. Und jetzt kannst du sehen, was für einen Ärger unser Clan bekommen hat, nur wegen meiner Milde.«
Schwarzer Regen hatte alles von ihr verlangt, alles, was von Wert war im Haus, und alle Liebe in ihrem Herzen; immer wieder hatte sie Mondschnecke um Fürsprache im Clan gebeten, und dennoch immer wieder die Ehre des Clans befleckt und dann allen lässig die kalte Schulter gezeigt.
Mondschnecke schüttelte den Kopf.
»Du hast sie geliebt, Großmutter«, sagte Rotalge. »Du kannst wirklich nichts dafür, dass sie sich von uns abgewandt hat.«
»Hätte ich ihr nur öfter gegen die Schienbeine geschlagen, dann wäre alles anders gekommen.«
Rotalge zog die Knie an und stützte die Ellbogen darauf. »Großmutter, du kannst ja nicht einmal einen Hund schlagen, wenn er dir die Suppe aus der Schale leckt.«
»Müsste ich aber«, erwiderte Mondschnecke schroff. »Mein weiches Gemüt ist meine größte Schwäche.«
Rotalge sprang auf und küsste sie auf die runzlige Wange. »Großmutter, ich liebe dich.«
Mondschnecke lächelte. Was finge sie ohne Rotalge an? Wenn ihr zum Beispiel etwas zustieße?
Teichläufers Weggang hatte ein größeres Loch in ihr Leben gerissen, als sie gefürchtet hatte. Wie gern hätte sie wieder gesehen, wie er blinzelnd auf etwas starrte oder Steine und Bäume um Verzeihung bittend streichelte, um ihre Schmerzen zu lindern. Rotalge war jetzt alles,
Weitere Kostenlose Bücher