Vorzeitsaga 07 - Das Volk der Blitze
Sag es mir.«
Rotalge befeuchtete ihre Lippen. »Großmutter, die Träume von Hundszahn, diese verrückten Sachen, die er über Teichläufer gesagt hat.«
»Was ist damit?«
Rotalge wischte sich hinter ihrem Rücken vorsichtig die feuchten Hände am Gewand ab. Nebel rollte durch die Hütte, kalt, vom eisigen Atem des Windes getragen, und das Schilfdach erzitterte und schlug dumpf auf die Pfosten. Mondschnecke rieb sich energisch die Arme, um sie zu wärmen.
Mit tiefer Stimme sagte Rotalge: »Teichläufer erzählte mir, er habe eine innere Stimme gehört, und ich glaube das hat er zwar nicht gesagt, aber ich habe es so verstanden -, dass es die Stimme vom Blitzvogel war.«
Mondschnecke starrte sie nur an.
Rotalge fügte eilends hinzu: »Frag mich nicht, was es bedeutet, Großmutter, denn ich weiß es auch nicht. Teichläufer hat geheiratet und war so schnell verschwunden, dass ich ihn nie um eine Erklärung bitten konnte.«
Mondschnecke wischte die Worte ungeduldig beiseite und mühte sich nachzudenken. Sie hatte zu ihrer Zeit viele seltsame Dinge gehört, die meisten von Hundszahn, aber das hier … Donner, der erwacht? Ein Blitzvogel im Innern von Teichläufer? Wie war das zu vereinbaren mit den Legenden von einem Blitzjünger, der die Leuchtenden Adler abschießt und damit das Ende der Welt einleitet?
Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht passte das alles zusammen, aber sie verstand nicht, wie.
Mondschnecke fühlte plötzlich den Drang, stracks zur Lagune der Seekuh zu rennen und Hundszahn die Speerspitze auf die Brust zu setzen, um eine Erklärung zu verlangen. Vorausgesetzt, er konnte es erklären; oft kamen seine Träume nur stückweise zu Tage, ein Teil jetzt, ein Teil später. Seine Träume hatten den Rat der Geistältesten viele zehn Sommer lang in ohnmächtige Wut versetzt. Oft dauerte es Monde, bis man die Traumfetzen des alten Irren zusammensetzen konnte, so dass sie einen Sinn ergaben.
Rotalge berührte Mondschnecke an der Schulter. »Großmutter, bitte! Teichläufer braucht mich. Ich weiß nicht, warum. Aber es ist wahr. Auf diesem Zug muss ich Schwanzfeder begleiten.«
»Rotalge, du bist ein Kind! Noch nicht einmal eine Frau. Wie kann ich dich in die Welt hinausgehen lassen? Mit einem Kriegstrupp? Wenn ich das meiner Enkeltochter antue, werden mir die Ahnen, wenn ich ins Land des Tagesanbruchs komme, die Haut abziehen und meine Seele den Hunden verfüttern.«
Rotalge ließ den Kopf sinken. Sie versuchte zu lächeln. Ihre Hand glitt langsam den Arm von Mondschnecke hinab - es war eine Geste der Liebe und der Vergebung, und sie brach Mondschnecke das Herz.
Rotalge wandte sich ab und stellte sich ganz nahe ans Feuer. Sie erschauderte. Sanft sagte sie: »Wenn er stirbt, Großmutter, werde ich nie mehr auf meine Seele blicken können.«
Mondschnecke schloss die Augen und kämpfte mit sich. So viele Gefahren drohten am Weg. Niemand wusste, was das Morgen bringen würde. Und ihre Enkelin, das Letzte und Kostbarste, was ihr geblieben war, wollte mit ihrem Bruder fortlaufen.
Sie öffnete die Augen wieder.
Rotalge hatte sich nicht gerührt. Sie sah unglücklich und verzweifelt aus.
»Dann geh, Rotalge. Geh nur!«
Rotalge riss den Kopf hoch, neue Hoffnung in den Augen. »Im Ernst? Ich kann gehen?«
»Beeil dich. Hol deine Sachen und lauf zu Schwanzfeder. Mach schnell, bevor mir klar wird, wie sehr ich dich liebe, und bevor ich wieder zu Verstand komme!«
Rotalge umarmte Mondschnecke so heftig, dass sie keine Luft mehr bekam, und stopfte eilends ihren Beutel.
Der alte Mund von Mondschnecke zitterte. Sie beobachtete Rotalge durch getrübte Augen.
Schwankende Baumschatten huschten über Schotes Gesicht, als er in das kalte Wasser des Heiligen Teichs watete. Mit gefalteten Händen sah er zu, wie Seeigel den gebrechlichen alten Leib von Eschenblatt trug. Der Krieger schritt langsam und ehrfürchtig heran. Die Leute machten ihm Platz.
Aus Achtung hatten sie bis zuletzt gewartet, um Eschenblatt zu bestatten. Mehr als sechsmal zehn und drei Sommer lang hatte er den Clan geführt, unterstützt und geliebt. Sein Tod schmerzte Schote mehr als all die andern. Er und Eschenblatt waren zusammen aufgewachsen, hatten als Kinder zusammen gespielt, als Jünglinge um dieselben Frauen gekämpft und sich gegenseitig, als Krieger, den Rücken freigehalten. Die Kriegszüge hatten sie beide zu besten Freunden gemacht. Als sie später in den Rat der Geistältesten gewählt wurden, hatten sie gemeinsam gearbeitet,
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