Vorzeitsaga 07 - Das Volk der Blitze
wirst du deine Robe wieder dringend brauchen.«
»Ja, gut.« Er gab ihr die Schnur und ging mit niedergeschlagenem Blick auf die Bäume zu.
Sie hatten einen breiten Streifen Stoff von seiner Robe reißen müssen, um einen Schurz für ihn zu machen, denn mit der langen Robe, die sich beim Schwimmen um seine Beine verheddern würde, käme er nicht mehr heil aus dem Wasser. Aber in dem hellen Sonnenlicht morgen Nachmittag würde er seine Robe wieder brauchen. Zur rechten Zeit würde sie ihm Beinkleider daraus machen.
Zur rechten Zeit - wenn sie mit Tauchvogel vereint wären und zu dritt nach Süden zur Lagune der Seekuh eilten.
Die Sehnsucht zerriss ihr das Herz. Sie sah Teichläufer mit ihren Beuteln und seiner gefalteten Robe in den dunklen Wald wandern. Das Mondlicht auf seiner weißen Haut war so stark, dass sie seinen Gang durch die Bäume verfolgen konnte. Es kam ihr unheimlich vor, als ob sie eine heimatlose Seele beobachtete, die ihren geheimnisvollen nächtlichen Pflichten nachging. Nur dass Teichläufer viel mehr Lärm machte. Zweige knackten unter seinen ungeschickten Füßen. Äste krachten, wenn er dagegenlief. Ganz schwach hörte sie ihn verzweifelt aufseufzen.
»Heilige Sonnenmutter«, sagte sie leise und ehrfürchtig, »lass ihn das überstehen. So viel liegt noch vor ihm, so viele wunderbare Abenteuer.«
Sie richtete den Kopfverband gerade. Der heftige Schmerz war einem dumpfen Kopfweh gewichen. Es war unangenehm, aber erträglich. Sie band noch drei große Korallenstücke an Teichläufers Schnur, die sie in der Hand wog, um das Gewicht zu schätzen. Der Ozean war glatt wie ein Edelstein, die Stimme der Meerfrau war nur noch als leises Murmeln zu vernehmen. Sie würden ihr Ziel erreichen. Der Plan würde gelingen. Sie fragte sich überrascht, wieso sie nicht selbst darauf gekommen war.
Muschelweiß trug eine fahlgrüne Tunika. An ihrem Gürtel hingen Dolch und Atlatl. Vor ihr lagen zwei Gesichtsmasken aus Schildkrötenpanzern. Am Nachmittag hatten sie Augenschlitze hineingebohrt, damit sie etwas sehen konnten, wenn sie aus dem Wasser stiegen. Mit den Masken würden sie hoffentlich nur wie dahingleitende Schildkröten aussehen. Möglicherweise brauchte sie ihre Maske gar nicht, da ihre Haut dunkel gebräunt und nachts im Wasser sicher nicht zu erkennen war, aber Teichläufer wäre bestimmt zu sehen gewesen. Sie band ihre Maske am Gürtel fest. Das Atlatl würde ihr wahrscheinlich nichts nützen, da sie keine Speere mitnehmen konnte. Aber sie wollte es trotz - dem dabeihaben, für den Fall, dass sie einen fehlgeleiteten feindlichen Speer benutzen konnte.
Teichläufer kam mit angespanntem Gesicht aus den Bäumen zurück. Beide hatten ihre Haarzöpfe zu Knoten auf dem Hinterkopf zusammengebunden. Diese Haartracht hob die ovale Form seines jungen Gesichts hervor. In der silbernen Lichtflut wirkte er sehr groß und hager für einen Jüngling von zehn und fünf Sommern. Die meisten Krieger seines Alters hatten schon Muskelbepackte Beine und Schultern infolge des dauernden Laufens und Speerwerfens. Aber Teichläufer hatte andere Stärken.
Seine rosafarbenen Augen glommen so überirdisch, als ob er eine ganz andere, unwirkliche Welt wahrnehmen würde, die sie nicht sah.
»Ich glaube, ich habe ein gutes Plätzchen gefunden«, verkündete er, als er neben ihr stand. Er kreuzte die Arme über der nackten Brust. »Ein Loch in einem toten Baum. Ich habe die Sachen dort hineingestopft.«
»Vielen Dank, Teichläufer«, sagte sie. Aber sie hoffte, dass es nicht regnen würde, denn sonst würde das Wasser in Strömen in den hohlen Stamm laufen, und dann würden ihre Sachen in einer Pfütze liegen. »Es ist Zeit, Teichläufer. Ich habe Biberpfote versprochen, dass wir genau eine Zeithand nach Mondaufgang dort sein würden. Bist du fertig?«
»Ja.« Sein Adamsapfel zeigte, dass er schwer schluckte. Er hob seinen Korallengürtel auf. »Er ist schwer«, meinte er. Seine Hände zitterten schon wieder.
»Ist er auch schwer genug? Ich habe damit leider keine Erfahrung, wie du weißt.«
»O ja. Er wird uns bestimmt unter Wasser halten.«
Sie lächelte. »Gut. Komm, ich will ihn dir festbinden.«
Er reichte ihr den beschwerten Gürtel. »Danke. Ich weiß nicht, warum ich so nervös bin.«
»Du hast allen Grund dazu«, sagte sie. »Aber keine Sorge. Wenn wir ins Wasser steigen, wirst du ganz ruhig sein.«
»Meinst du wirklich?«
»Ja«, versicherte sie und verknotete die Schnur um seine schlanke Taille. Er hob
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