Vorzeitsaga 07 - Das Volk der Blitze
Abgründe, in die ich nicht ohne Herzklopfen blicken kann. Ich bin so angstbesessen, dass ich nicht mehr richtig denken kann. Was ist bloß los mit mir?«
Schote zog sich die Decke um die Schultern und lächelte seiner Tochter, die im Sternenlicht saß, gütig zu. Schwarzes Haar hing ihr über die Wangen. »Was los ist?« sagte er sanft. »Ich glaube, darauf kann ich Antwort geben. Ich habe ja selbst so viele meiner Lieben verloren. Du suchst überall nach einem sicheren Versteck, wo du dir die Wunden lecken kannst, wo du deine Verluste betrauern kannst. Aber -«
»Aber«, flüsterte sie und fuhr sich durch das lange Haar, »alle sicheren Orte sind mit Tauchvogel verschwunden. O Vater, ich fühle mich so leer. In den letzten paar Tagen habe ich mich nur bewegt wie ein Schlafwandler und gebetet, dass ich nie mehr aufzuwachen brauche.«
»Aber du wirst aufwachen, meine Tochter«, versicherte Schote ihr liebevoll. »Wie du dich auch ablenken willst, um deine Ängste zu verscheuchen - du wirst wieder aufwachen.«
Muschelweiß schüttelte den Kopf. »Ich spüre schon die Fühler unerträglichster Qualen nach meinen Seelen greifen, und ich weiß, dass bald ein übermenschlicher Schmerz jede andere Sorge vertreiben wird. Und da ist auch noch so eine wilde Hoffnung, die mich schüttelt. Zwei Stimmen ertönen abwechselnd in mir. Die eine sagt: ›Er ist tot‹. Aber die andere beharrt darauf: ›Nein, er ist nicht tot‹. Wenn ich nur gesehen hätte, dass Tauchvogel stirbt. Aber ich habe es nicht gesehen.«
Schote schwieg. Schließlich wusste nicht einmal Eulenfalter genau, ob sein Vater tot war.
Muschelweiß warf die Decke beiseite und stand auf. Das Licht der Sterne schimmerte in ihren dunklen Augen und vertiefte die Falten, die ihre Stirn durchfurchten und sie zehnmal zehn Sommer alt erscheinen ließen. »Ich muss jetzt etwas laufen. Bin bald zurück.«
Schote stützte eine Hand auf die Bodenmatte. »Scheint mir eine gute Idee.«
»Du brauchst nicht mitzukommen, Vater.« »Ich weiß. Aber jetzt bin ich wach. Und wir können miteinander reden.«
Er folgte ihr zum Strand. Der kalte Nachtwind ließ ihre Tunika um die Hüften flattern. Sie hakte ihr Atlatl am Gürtel fest und nahm die Speere in die rechte Hand; so ging sie nach Süden über ein Feld glitzernder Muscheln. Schote ging an ihrer Seite. »Alles in Ordnung?« »Er ist tot, Vater, nicht wahr? Eulenfalter sah ihn fallen. Es ist die Angst, die mich quält.
Angst und Hoffnung. Tauchvogel kann nicht mehr am Leben sein - oder?«
»Es ist sehr unwahrscheinlich. Wie sehr uns diese Wahrheit auch schmerzen mag.«
Aber eine tief vergrabene Erinnerung überkam Schote. Sein Neffe, Krötentöter, hatte gelebt. Zweimal zehn und sieben Sommer zuvor hatte er sein Dorf gegen Kupferkopfs Krieger geführt und war verwundet worden. Kupferkopf hatte ihn tagelang am Schreien gehalten, bevor er ihn tötete. Die grauenhaften Schreie rissen Muschelweiß gelegentlich immer noch aus dem Schlaf. Sie hatte die Geschichte Schote erzählt, immer wieder, wie eine Litanei, mit der sie böse Geister, die ihre Seelen besetzt hatten, aus sich heraustreiben wollte. Kupferkopf hatte sie in ihrer Hütte festgebunden, damit sie ihren Vetter nicht befreite und Zeugnis ablegen konnte über das, was er mit seinen Feinden machte.
Immer wenn Muschelweiß geschrien oder getobt hatte, war Kupferkopf unbewegt in die Hütte gekommen, um sich vor sie zu knien und ihr so lange ins Gesicht zu schlagen, bis sie aufhörte. Zu jener Zeit war sie schwanger mit seinem Sohn gewesen, und das Baby hatte bei diesen Zwischenfällen wild in ihrem Bauch gekickt, als wollte es entfliehen. Bei jedem Schlag hatte Kupferkopf zärtlich gemurmelt: »Ich liebe dich, Muschelweiß. Mach das nicht mit mir. Ich liebe dich, Muschelweiß.
Dieser Mann ist nicht dein Vetter, er ist unser Feind. Mach das nicht mit mir!«
Muschelweiß hockte sich in die Brandung und ergriff eine kleine, vollkommen geformte Schneckenmuschel, die an den Strand gespült worden war. Gischt umgab ihre Knöchel und bedeckte sie mit Bläschen, die kitzelten, wenn sie aufplatzten. Schote schaute neben ihr nach unten. Wasser war in der leeren Muschelschale. Im Sternenlicht blickte ihre Seele zu ihm auf.
»Vielleicht… wenn ich auf meine eigene Seele starre, die dem Wasser so gleicht«, flüsterte sie, »vielleicht kann ich dann meine Erinnerungen an Kupferkopf wegspülen. Heilige Meerfrau - ich höre immer noch seine Stimme, Vater. Wispernd dringt sie aus
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