Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
abgerissener Fetzen vom Canyon-Rand, aber der nahende Abend hatte den Stein darunter schon purpurn gefärbt. Eisenholz saß neben einem Felsblock am Rand der Senke des Rechten Wegs, und von dort aus sah er Nordlicht und Maisfaser den Pfad von Krallenstadt herunterkommen. Er holte tief Atem, um seine Fassung wiederzugewinnen. Wenigstens war es Nordlicht gelungen, sie aus Krallenstadt hinauszubringen. Nach Schlangenhaupts Warnung hatte Eisenholz halb und halb gefürchtet, daß Spannerraupe ihr die Erlaubnis verweigern würde.
Seit mehr als sechzehn Sommern hatte er sich auf diesen Augenblick vorbereitet, aber nun, da es soweit war, klangen alle eingeübten Reden hohl.
Nach Maisfasers Geburt hatte sich Eisenholz eine Zeitlang zu wund gefühlt und auch zuviel Angst gehabt, um an seine Tochter überhaupt zu denken. Aber als Krähenbart zurückgekehrt und alles in Krallenstadt zur Ruhe gekommen war, hatte er unaufhörlich an sie gedacht. Durch seine Träume klang das übersprudelnde Lachen eines kleinen Mädchens, hallte das Getrappel kleiner Füße. In jedem Sonnenkreis saß er am Geburtstag seiner Tochter allein in seiner Kammer und versuchte, sich vorzustellen, wie sie jetzt wohl aussah und wie sie gewachsen war. War ihre Stimme wie die von Nachtsonne oder eher wie die seine? Sah sie ihm ähnlich - oder ihrer Mutter? In seinen Befürchtungen und in seiner Einsamkeit hatte er nur den Trost zu wissen, daß Maisfaser in Sicherheit war, in der Obhut guter Menschen.
Wie oft hatte er sich danach gesehnt, neben Nachtsonne zu sitzen und ihr zu sagen, daß ihrer beider Tochter am Leben war, daß Maisfaser drei, vier oder fünf Sommer alt war und daß es ihr gutging. Aber wenn sie sich auf der Plaza begegneten, senkte Nachtsonne absichtlich den Blick, sprach mit ihm nur, wenn sie mußte, und da wußte er, daß er nie mehr in ihren Armen liegen würde, in den Armen der Mutter seines Kindes, um Trost für seine Einsamkeit zu finden …
Nordlicht lachte, und Eisenholz drehte sich zu ihnen, um sie herunterkommen zu sehen. Sie sprachen miteinander. Eisenholz sah, wie sich ihr Mund bewegte, sah Maisfaser lächeln, konnte aber die Worte nicht verstehen. Sie ließen beide das lange schwarze Haar locker hängen, und eine kleine, nach Erde duftende Brise wehte es ihnen sanft übers Gesicht. Das über den Canyon schräg einfallende Sonnenlicht färbte Nordlichts weiße Robe golden und floß wie flüssiger Bernstein in die Falten von Maisfasers gelbem Kleid. Was für eine schöne junge Frau war sie jetzt!
Das Unterteil seines besten Hemdes hatte sich verknäult und zusammengewickelt, und geistesabwesend versuchte er, es zu glätten. Er schaute zum Bruder Himmel hoch, um sich zu beruhigen. Zwischen den Wolken stiegen schwarze Schattenrisse von Adlern auf und tauchten mit schrillen Schreien hinab. Nordlicht hatte Eisenholz geduldig erklärt, was er Maisfaser alles erzählt hatte und was nicht. Er hatte Eisenholz auch von dem rätselvollen Besuch Schlangenhaupts berichtet, der Maisfaser aufgesucht hatte. »Sie ist verwirrt und überwältigt, Eisenholz. Sei lieb zu ihr. Laß sie erzählen, wie sie sich fühlt. Sie hat viele Fragen.«
Sein Herz hämmerte, als sie näher kamen. Schweißtropfen standen ihm auf der flachen Nase. Er hatte sein bestes Hemd angezogen, das schöne aus Wildleder mit den Zickzackleisten aus Stachelschweinstacheln über der Brust und zu den Ärmeln hinunter. Der Wolfsanhänger aus Türkis, den ihm Nachtsonne geschenkt hatte, hing um seinen Hals, und sein grauer Zopf war ordentlich gebunden.
Weniger als fünfzig Hände von der Senke des Rechten Wegs entfernt, blieb Nordlicht stehen und nickte in Richtung des Felsblocks, wo Eisenholz saß.
Maisfaser warf einen Blick auf Eisenholz und wandte sich dann wieder an Nordlicht, sagte etwas zu ihm.
Nordlicht legte ihr eine Hand auf die Schulter, nickte Eisenholz wieder zu und ging nach Krallenstadt zurück.
Eisenholz erhob sich. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und sah Nordlicht nach. Ein honigfarbenes Licht lag über der fünfgeschossigen Stadt und erhellte die Gesichter der Leute, die über die Dächer wandelten. Im Westen, wo Vater Sonne noch brannte, kletterten Sklaven mit Geschirr und Wasserkrügen von der Senke hoch. Kinder folgten ihnen mit viel Geschrei und warfen Stöcke für die bellenden Hunde. Grauholz, der Sklavenmeister, bildete die Nachhut. Er hatte keinen Pfeil eingelegt und trug den Bogen über der Schulter, doch als Warnung hielt er einen Pfeil in der
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